Edelweißpiraten
bleiben – bis morgen, wenn die Luft wieder rein ist.
Wir haben überlegt, und dann haben wir eingesehen, dass sie recht haben. In der Küche hat ein altes Sofa gestanden. Das hat die Frau uns zurechtgemacht, und da sind wir die Nacht geblieben. Unter ’ner Kuckucksuhr, bei der jede Viertelstunde der Vogel rauskam und gekrächzt hat.
Ich werd die Nacht nie vergessen. Und erst recht nicht, was die alten Leutchen für uns getan haben. Es ist gut zu wissen, dass es so was gibt. Aber trotzdem: Irgendwie war das, was der Mann gesagt hat, traurig. Es ist mir heute wieder durch den Kopf gegangen. Und ich hab gedacht: Wer weiß? Der Alte hat ’ne Menge gesehen in seinem Leben. Vielleicht hat er ja recht. Vielleicht ist es wirklich nutzlos, was wir tun.
1. April 1944
So langsam wird’s ernst. Tom und ich sind jetzt 17, und vor ein paar Wochen haben wir die Einberufung zum Wehrertüchtigungslager im Briefkasten gehabt. Eigentlich hatten wir gehofft, wir bleiben davon verschont, weil wir nicht in der HJ sind, aber da haben wir uns geschnitten. Sie holen sich alle Lehrlinge aus dem 27er Jahrgang, aus einem Betrieb nach dem andern, und jetzt waren eben Ostermann und Klöckner und noch ’n paar andere dran.
Wir haben uns zusammengesetzt, Tom und ich, und überlegt, ob wir uns vor der Sache drücken sollen. Aber das war zwecklos. Im Betrieb haben sie uns klargemacht, was passiert, wenn wir nicht hingehen. Nämlich dass wir uns die uk-Stellung in den Allerwertesten schieben können und pünktlich zum 18. Geburtstag für die Wehrmacht freigestellt werden.
Na gut, haben wir gedacht, dann Plan B. Wir gehen zwar hin, fallen den Leuten aber dermaßen auf die Nerven, dass sie uns nach spätestens drei Tagen freiwillig wieder nach Hause schicken. Das Ganze sollte drei Wochen dauern, und wir hatten keine Lust, so lang von Tilly und Flocke getrennt zu sein und auch die anderen nicht zu sehen.
Am Sonntag vor drei Wochen ist es losgegangen: Burg Vogelsang in der Eifel. Hört sich an wie ’n Paradies, aber wir haben
schon am ersten Tag gemerkt, dass es in Wahrheit die Hölle ist. An unsere guten Vorsätze haben wir uns nicht mal mehr erinnert, so haben die uns rangenommen. Die Ausbilder waren nämlich nicht etwa welche von der HJ, sondern die schlimmsten Schleifer aus der Wehrmacht und der Waffen-SS. So ziemlich die härtesten Knochen, die ich jemals gesehen hab.
Wir waren kaum angekommen, da ging’s schon ab ins Gelände. Immer im Laufschritt, mit tonnenschweren Tornistern. Und jedes Mal, wenn wir zu ’nem Schlammloch gekommen sind, hat einer von den Ausbildern gebrüllt: »Fliegeralarm! Volle Deckung!« Wir also rein in die Pfütze, überall noch Eisschollen vom Winter drauf, es war rattenkalt. Kaum waren wir drin, hieß es: »Fehlalarm! Sofort wieder aufstehen!« Und dann haben sie uns nach allen Regeln der Kunst zusammengefaltet, weil wir unsere Ausrüstung dreckig gemacht hatten. Also im Laufschritt zurück in die Kaserne und innerhalb von zehn Minuten alles sauber kriegen. Wer’s nicht schafft, musste wieder raus, und das ganze Spiel ging von vorne los.
Und das war nur der erste Tag. Von da an wurde langsam gesteigert. Von morgens bis abends Exerzieren, Marschieren, Geländeläufe, Hindernisparcours, Schießen und zur Abwechslung wieder Marschieren. Und beim kleinsten Fehler Strafexerzieren bis zum Umfallen, wobei Tom und ich immer an vorderster Front dabei waren, weil wir im Gegensatz zu den HJlern nicht mehr dran gewöhnt sind, die Klappe zu halten, wenn uns einer blöd kommt – egal, ob Ausbilder oder nicht. Ich glaub, es hat in der ganzen Zeit keinen einzigen Abend gegeben, an dem wir noch gradeaus gucken konnten.
Und wozu das Ganze? Damit die Wehrmacht ihre neuen Soldaten nicht erst lange ausbilden muss, sondern sie gleich zum Krepieren an die Front schicken kann. Das ist der einzige Sinn der Veranstaltung, wenn man näher drüber nachdenkt. Eigentlich ’ne
Schande, dass wir dabei mitgemacht haben. Aber was blieb uns schon übrig?
Heute sind wir zurückgekommen, die drei Wochen sind um. Mir tun alle Knochen weh, Tom geht’s nicht anders. Aber wir haben was fürs Leben gelernt: wie man am schnellsten und am saubersten andere Leute erschießt, ersticht, erwürgt, mit Handgranaten zerfetzt oder sonst wie dahinmetzelt. In der Hinsicht macht uns keiner mehr was vor. Ist doch was!
2. April 1944
Heute haben wir nach drei Wochen Dunkelheit und Schande endlich die anderen wiedergetroffen. Es ist Sonntag, der Winter
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