Edelweißpiraten
noch Verkehrsmittel, die vernünftig funktionieren. Und außerdem dürfen wir auf keinen Fall ’ner Streife in die Arme laufen. Grade jetzt nicht, wo Flint, Kralle und der Lange ihre Arbeit geschmissen haben und abgetaucht sind. Für die wär’s tödlich, wenn sie erwischt werden – und das ist nicht nur ein Spruch.
Zum Glück ist dann aber nach Pfingsten was passiert, das unsere Stimmung wieder gebessert hat: Die Alliierten sind in der Normandie gelandet. Die Nazis haben versucht, die Sache runterzuspielen – von wegen, sie hätten die Invasion zurückgeschlagen. Aber dann mussten sie doch mit der Wahrheit raus. Stück für Stück haben sich die Alliierten an der Küste festgesetzt, mit jeder neuen Meldung ist unsere Hoffnung größer geworden. Frankreich ist nicht weit weg, haben wir gedacht, und vielleicht ist das ganze Elend ja bald überstanden.
Gestern hat’s dann für ein paar Stunden tatsächlich so ausgesehen. Es kam die Nachricht, auf Hitler wär ein Attentat verübt worden, und dann hieß es auf einmal, er ist tot. Nur hat keiner was Genaues gewusst. Jeder hat was anderes erzählt, und man musste höllisch aufpassen, mit wem man’s zu tun hat. Den ganzen Nachmittag haben wir gehofft, dass es wahr ist. Aber am
Abend kam die Enttäuschung: Hitler hat überlebt, das Attentat ist gescheitert. Heute haben wir mehr erfahren. Offiziere von der Wehrmacht sollen’s gewesen sein. Noch in der Nacht sind die ersten von ihnen erschossen worden.
Hitler hat im Rundfunk angekündigt, jetzt würd abgerechnet, wie’s die Welt noch nicht gesehen hat. In allen Zeitungen wird gegen die Attentäter gehetzt. Es wären »Volksverräter«, und die deutsche Jugend und die Arbeiter in den Betrieben würden jeden, der so was noch mal versucht, »mit ihren Hacken und Schaufeln zuschanden schlagen und unter ihren Füßen zertreten«.
Wir müssen verdammt vorsichtig sein in nächster Zeit, hat der Lange gesagt, als wir uns heute getroffen und drüber geredet haben. Das Attentat wär wie ein Stich ins Wespennest. Genau der richtige Vorwand für die Nazis, um mit allen aufzuräumen, die ihnen ein Dorn im Auge sind. Die Spitzel wären garantiert schon unterwegs, um ihre Lauscher aufzustellen. Es sollte also jeder von uns aufpassen und bloß kein falsches Wort sagen. Wir dürften keinem trauen. Niemandem. Am besten nicht mal uns selbst.
5. August 1944
In den ersten Tagen nach dem Attentat waren wir ziemlich niedergeschlagen. Aber nicht lange. Dann haben wir uns gesagt, dass es eigentlich keinen Grund gibt, die Köpfe hängen zu lassen. Gut, die Sache ist schiefgelaufen, aber: besser ein gescheitertes Attentat als gar keins. Flint hat das gesagt, und er hat verdammt recht damit. Denn die Sache zeigt doch, dass es noch ’n paar mutige Leute gibt. Sogar unter denen da oben. Vielleicht sind’s ja mehr, als wir glauben. Vielleicht war’s nur der Startschuss!
Außerdem haben die Alliierten vor ein paar Tagen in der Normandie den Durchbruch geschafft. Bisher hatten sie nur ein paar
Brückenköpfe an der Küste, aber jetzt rücken sie vor, und die Wehrmacht hat anscheinend nicht viel dagegenzusetzen. Wenn alles nach Plan läuft, haben sie im englischen Sender gesagt, sind sie in ein paar Wochen in Paris.
Das hat uns Mut gemacht. Wir haben Morgenluft gewittert und gedacht, anderen muss es doch genauso gehen. Mit jedem Kilometer, den die Alliierten näher kommen, müssen die Leute doch aufwachen. Müssen kapieren, dass es an der Zeit ist, was zu tun, anstatt immer nur alles hinzunehmen. Und dass jetzt die Gelegenheit dafür ist!
Deshalb haben wir unsere Aktionen wieder aufgenommen. Tilly und ich, wir hatten den anderen erzählt, was wir von den alten Leutchen gehört haben. Dass die Sachen auf den Mauern nicht umsonst sind. Dass drüber geredet wird im Viertel. Also haben wir beschlossen, damit weiterzumachen – in der Hoffnung, dass es irgendwann noch ’ne andere Wirkung hat als nur Reden.
Letzte Nacht waren wir wieder unterwegs, und da wär uns die Sache fast zum Verhängnis geworden. Wir waren zu fünft: Flint, Kralle, der Lange, Tom und ich. Es war nach Mitternacht, als wir mit der Aktion angefangen haben. Halb Ehrenfeld haben wir abgeklappert und unsere Sprüche an die Wände geschrieben. Überall, wo wir’s für richtig hielten. In den Unterführungen und Hofeinfahrten, und später – als wir gemerkt haben, dass alles ruhig bleibt – auch an den Straßen.
Irgendwann ist im Osten der erste Streifen Licht am Himmel
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