Edelweißpiraten
Sonntagmorgen bei der zuständigen Polizeidienststelle. Falls es Beschwerden gibt, seid ihr schneller wieder hier, als ihr denken könnt. Und jetzt raus!«
Wir waren mehr tot als lebendig, als wir aus dem EL-DE-Haus kamen. Draußen war heller Sonnenschein, wir mussten uns erst mal festhalten, so schwindlig war uns nach der langen Zeit im Keller. Aber wir haben’s geschafft, wir haben überlebt. Und das ist das Einzige, was zählt.
Ich weiß nicht, warum sie uns rausgelassen haben. Ich weiß nur, dass wir dafür sorgen müssen, nie wieder einen Fuß in dieses verfluchte Haus zu setzen. Denn eins steht fest: Das nächste Mal kommen wir da nicht mehr lebend raus.
Am Tag, nachdem ich die Aufzeichnungen über die Erlebnisse der Edelweißpiraten in der Gestapohaft gelesen hatte, besuchte ich das EL-DE-Haus. Dass es den Krieg überstanden hat und heute eine Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus ist, wusste ich. Aber ich war nie dort gewesen, es hatte sich nicht ergeben. Jetzt holte ich es nach.
Ich war nicht vorbereitet auf das, was mich erwartete. Tief unten im Keller war der Zellentrakt, in dem die Gefangenen gesessen hatten, so gut erhalten, als wäre die Zeit stehengeblieben. Ich kaufte eine Eintrittskarte und ging hinab. Man konnte die Zellen betreten, und sogar die Inschriften, die die Gefangenen in ihrer Not in die Wände geritzt hatten, waren noch zu lesen. Es war beklemmend und wirkte so echt, dass ich jeden Moment erwartete, den Zellenwärter zu sehen und das Knallen seines Stockes zu hören.
In einer der Zellen hockte ich mich auf den Boden und versuchte mir vorzustellen, was die Gefangenen empfunden hatten. Die Angst, die Schmerzen, den Hunger, den Gestank, die Demütigungen und die Hilflosigkeit. Natürlich konnte ich es nicht, meine Phantasie reichte nicht aus. Dennoch nahm es mich mit, ich konnte nicht verhindern, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Die anderen Besucher sahen mich erstaunt an. Aber das war mir egal, ich sah die Bilder aus dem Tagebuch vor mir.
Am nächsten Tag besuchte ich den alten Gerlach und erzählte ihm davon. Ich musste ihm jede meiner Beobachtungen schildern, bis in die letzte Kleinigkeit. Er fragte mich so lange aus, bis er davon überzeugt war, dass der Zellentrakt noch genauso aussah, wie er und seine Freunde ihn damals vorgefunden hatten. Erst dann gab er Ruhe.
»Sind Sie jemals wieder dort gewesen?«, fragte ich ihn.
»Nur einmal«, sagte er. »Vor ein paar Jahren. Die Gegend hat sich ziemlich verändert – nur das Haus nicht. Ich stand davor, direkt vor dem Eingang. Bestimmt eine halbe Stunde habe ich mit mir gekämpft – dann bin ich gegangen. Seitdem war ich nie wieder da.«
Er sah aus dem Fenster und schwieg. Ich wartete eine Weile, dann sagte ich:
»Ich habe auch die Inschriften an den Wänden gesehen.«
Er horchte auf. »Sie sind noch da – nach all der Zeit?«
»Ja.«
»Wie viele sind es?«
»Oh, ich weiß nicht. In jeder Zelle ein paar Hundert, schätze ich.«
Einige Inschriften hatte ich mir eingeprägt und gab sie aus der Erinnerung wieder. Das Grauen der Haft und der Folter sprach aus ihnen. Irgendwann brach ich ab, als ich merkte, dass es ihn zu sehr mitnahm. Nur eines erwähnte ich noch:
»An einer Stelle habe ich eine Inschrift gefunden, die mich an Sie erinnert. Da stand: Rio de Schanero, aheu Kapalero, Edelweißpiraten sind treu.«
Er sank in sein Kissen zurück. »Ja«, sagte er und lächelte, »das war einer von uns. Es ist aus einem unserer Lieder.«
Er lag da und sah zur Decke. Es war ganz still. Wir warenunter uns, die beiden anderen Männer hatten sich zur Seite gedreht und verfolgten über ihre Kopfhörer das Fernsehprogramm auf dem Bildschirm an der Wand. Ich rückte meinen Stuhl näher an das Bett.
»Was ist eigentlich aus Hoegen geworden?«, fragte ich. »Und aus den anderen Gestapoleuten?«
Es dauerte eine Weile, bis er antwortete. »Von den meisten weiß ich es nicht«, sagte er. »Aber einige haben nach dem Krieg, nachdem sie ein paar Jahre im Gefängnis waren, wieder in Köln gelebt. Auch Hoegen. Er war Geschäftsmann, glaube ich.«
»Sie meinen – er ist hiergeblieben? Und die Leute haben ihn nicht aus der Stadt gejagt?«
Der alte Gerlach winkte ab. »Einmal habe ich ihn wiedergesehen«, sagte er. Seine Stimme war dumpf, er war so tief in sein Kissen gesunken, dass ich sein Gesicht kaum noch erkennen konnte. »Es war ein paar Jahre nach dem Krieg. Als es wieder bergauf ging. Ich arbeitete auf einer
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