Eden
Dickicht. Der Weg verengte sich, zugleich wurde der Abhang steiler. Plötzlich hatten sie die ganze Scheibe der untergehenden Sonne unmittelbar vor sich. Zwischen ihnen und der Sonnenscheibe erstreckte sich, mehrere hundert Meter unter ihnen, eine in vielen Farben schillernde Ebene. Dahinter leuchtete eine Wasserfläche, die das Rot der Sonne widerspiegelte. Das ungleichmäßige Ufer des Sees war mit Flecken von dunklem Gebüsch bedeckt, da und dort konnten sie künstliche Befestigungen und Maschinen mit gespreizten Füßen erkennen. Etwas näher, zu Füßen des Hangs, an dessen Rand der Beschützer scharf gebremst hatte, erstreckten sich in unregelmäßigem Mosaik irgendwelche Bauwerke an hellen Streifen entlang, ganze Reihen hell glänzender Masten, nicht größer als Streichhölzer. Unten herrschte lebhafter Verkehr. Kolonnen grauer, weißer und brauner Pünktchen krochen in verschiedene Richtungen dahin. Sie vermischten sich miteinander, bildeten an manchen Stellen Ansammlungen und liefen wieder in langgezogenen Schnürchen auseinander. In dem dicht besiedelten Gelände blitzten unausgesetzt feine Funken auf, als ob die Bewohner in Dutzenden von Häusern unermüdlich die im Glanz der Abendsonne blinkenden Fenster öffneten und schlössen. Der Doktor stieß einen Ruf der Bewunderung aus. »Henrik, das ist dir wirklich gelungen! Endlich etwas Normales, das gewöhnliche Leben, und was für ein herrlicher Beobachtungspunkt!« Er schob sich, die Beine voran, aus dem offenen Turm heraus. Der Ingenieur hielt ihn zurück. »Warte, siehst du die Sonne? In fünf Minuten geht sie unter, dann bekommen wir nichts zu sehen. Wir müssen das ganze Panorama filmen, und das so schnell wie möglich, sonst schaffen wir es nicht.« Der Chemiker holte bereits die Kamera unter den Sitzen hervor. Sie halfen ihm rasch, das größte Teleobjektiv aufzusetzen, das dem Rohr einer alten Muskete glich. Da sie es eilig hatten, warfen sie die Stative hinaus. Der Ingenieur rollte unterdessen eine Nylonleine auseinander, befestigte sie am Rand des Turmes, schleuderte die beiden Enden über den Beschützer hinweg nach vorn und sprang hinunter.
Seine Gefährten hoben unterdessen die Stative auf und liefen an den Rand des Hanges. Der Ingenieur holte sie mit den beiden Enden der Leine ein und befestigte sie bei jedem am Karabinerhaken. »Ihr würdet in eurem Eifer noch hinunterfallen«, sagte er. Die Sonnenscheibe begann bereits in dem flammenden Wasser des Sees zu versinken, als sie die Kamera aufstellten. Der Mechanismus surrte, das große Objektiv blickte nach unten. Der Doktor kniete nieder, er hielt die beiden Vorderfüße des Stativs, damit sie nicht in den Abgrund stürzten. Der Chemiker drückte ein Auge an die Zielvorrichtung und schnitt eine Grimasse. »Die Blenden her!« Der Ingenieur rannte zurück und brachte die größte, die sie hatten. Sie drehten in großer Eile weiter. Die Sonnenscheibe war schon bis zur Hälfte im See verschwunden. Der Ingenieur hielt mit beiden Händen die Laufschiene und lenkte die Kamera gleichmäßig nach links und nach rechts. Der Chemiker bremste zuweilen diese Bewegung und richtete das Objektiv auf die Stellen, wo eine dichtere Zirkulation von Fleckchen und Formen in der Zielvorrichtung zu beobachten war. Er bewegte die Blendeneinstellung, veränderte die Brennweite. Der Doktor kniete noch immer. Die Kamera surrte leise, das Band rollte von den Trommeln. Das erste war abgelaufen. Sie wechselten hastig die Spulen. Schon lief das zweite. Als sich das Objektiv auf die Stelle richtete, wo die größte Verkehrsdichte war, ragte nur noch ein kleines Stück der Sonnenscheibe über das immer dunkler werdende Wasser. Der Doktor beugte sich weit vor, gehalten von der gespannten Leine - anders ließ sich die Aufnahme nicht machen. Unter sich erblickte er die steil hinabführenden rostbraunen Falten der lehmigen Wand, die in immer blasserem Rot schimmerten. Bei den letzten Metern der zweiten Spule erlosch die rote Scheibe. Der Himmel war noch voller Lichtreflexe, aber über der Ebene und dem See lagen schon graublaue Schatten. Außer dem Funkeln der kleinen Lichter war dort nichts mehr zu erkennen. Der Doktor richtete sich mit Hilfe der Leine wieder auf. Zu dritt trugen sie die Kamera behutsam wie einen Schatz zurück. »Glaubst du, dass die Aufnahmen gelungen sind?« fragte der Chemiker den Ingenieur. »Nicht alles. Ein Teil wird überbelichtet sein. Wir werden’s ja sehen. Schließlich kann man noch immer hierher
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