Edens brisantes Geheimnis
sie hinter der Statue hervor. Waren die Flure schon immer so schmal gewesen? Vor vielen Jahren war ihr alles viel beeindruckender erschienen, wenn sie mit ihren Klassenkameradinnen kichernd und tuschelnd hier entlanggegangen war. Aber jetzt war nicht die Zeit für nostalgische Erinnerungen. Sie musste unbemerkt durch das Gebäude kommen.
Was nicht allzu schwierig sein sollte. Es war Unterrichtszeit, und normalerweise waren die Flure dann menschenleer. Den Nonnen und Sekretärinnen aus dem Schulbüro aus dem Weg zu gehen würde sich dagegen wohl als weniger einfach erweisen.
Bevor sie noch einen Schritt getan hatte, legte sich eine große Hand auf ihre Schulter. Sie wirbelte herum und sah sich Schwester Maxine gegenüber, ungewohnt in ihrem vollen Ornat -
einem langen, schweren schwarzen Gewand -, das geschnitzte Holzkruzifix, das fast die Größe eines Baseballschlägers zu haben schien, an einer Perlenkette um die rundlichen Hüften.
Eden fluchte stumm. Sie hätte daran denken müssen, dass Schwester Maxine die Gewohnheit hatte, sich unbemerkt heranzuschleichen und wie aus dem Nichts aufzutauchen.
Ihre und des Herren Wege seien unerforschlich, hatte ein beliebter Scherz zu ihrer Schulzeit gelautet.
Die alte Nonne musterte sie durch ihre randlose Brille. „Ich glaube nicht, dass wir uns kennen. Kann ich Ihnen helfen?"
Eden hoffte, dass Schwester Maxine nicht mehr gut sah. Aus einiger Entfernung musste sie, Eden, eigentlich als Novizin durchgehen. Erst bei genauerem Hinschauen würde man bemerken, dass ihre Bluse aus Seide und der Pullover eindeutig modisch geschnitten war.
„Ich bin neu hier", sagte sie. „Mathematiklehrerin. Ich bin ... von einem anderen Pfarrbezirk hierher gewechselt."
Beim Klang ihrer Stimme veränderte sich Schwester Maxines strenges Gesicht. „Du warst noch nie eine gute Lügnerin, Candace", schalt sie sanft.
Sie breitete die Arme aus wie ein weiser schwarzer Vogel die Flügel und zog die junge Frau an sich. Ein wundervolles Gefühl der Geborgenheit überkam Eden, und sie erwiderte die innige Umarmung.
Schwester Maxine hatte ihr in jenen dunklen Zeiten ihrer Jugend Trost und Zuflucht geboten. Als Eden in der vierten Klasse gewesen war, war ihre Mutter schwer erkrankt und kurz darauf gestorben. Schwester Maxine hatte sie aus dem Unterricht geholt und ihr die traurige Nachricht mitgeteilt. Das Gleiche geschah nach der Ermordung ihres Vaters drei Jahre später, aber da hatte Eden schon nicht mehr geweint. Es hatte zu viele Tragödien in der Familie Verone gegeben. Dennoch war sie dankbar für den Trost, den Schwester Maxine ihr gespendet hatte, und Eden wünschte, sie hätte weiterhin Kontakt zu ihr gehalten.
„Es tut mir Leid, Schwester. Ich habe mich damals nicht von Ihnen verabschiedet."
„Das ist schon in Ordnung. Deine Familie ... Nun, lass es mich so sagen: Ich habe verstanden, warum du so überstürzt fortmusstest, Candace."
„Nennen Sie mich bitte Eden. Eden Miller. So heiße ich jetzt."
Schwester Maxine trat einen Schritt zurück. Sie zog ein sauberes weißes Taschentuch aus ihrem Habit und betupfte ihre Augenwinkel hinter der Brille. „Gut, dann Eden. Ich habe dich erwartet."
„Wirklich?" Plötzlich war Eden angespannt. War es so absehbar gewesen, dass sie zur Beerdigung ihres Bruders kommen würde? „Wie das?"
„Komm mit mir."
Eden blieb stehen, fürchtete eine Falle. Wenn Gus Verone sie in die Hände bekam, war es vorbei mit dem ehrlichen Leben. Er würde sie in den Schoß der Familie zurückzwingen.
„Schwester, ich möchte meinen Großvater nicht sehen."
„Natürlich nicht. Ich bin Nonne, kein Dummkopf." Bitterkeit schwang in ihrer Stimme mit.
Obwohl Schwester Maxine fest daran glaubte, es sei das alleinige Vorrecht des Herrn, über jemanden zu richten, so verabscheute und verurteilte sie doch die Aktivitäten der Familie Verone. „Da ist jemand anders, der dich sprechen will. Du brauchst nichts zu befürchten."
„Wer ist denn diese mysteriöse Person?"
„Du wirst es sehen."
Ihre Großmutter? Edens Herz machte einen Satz. Sie vermisste sie so sehr! Sobald sie von Eddys Tod gehört hatte, hatte sie die alte Dame angerufen.
Sophia Verone hatte sich schwach und verzweifelt angehört. Sie hatte ihre beiden Söhne überlebt und nun auch noch ihren einzigen Enkel verloren. In Eden stiegen die alten Schuldgefühle auf. Für ihre Großmutter war sie unerreichbar, so gut wie tot. Eden hatte sie allein in einem Nest voller Giftschlangen
Weitere Kostenlose Bücher