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Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Titel: Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
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vergessen, mit der ich diese Gestalt betrachtete. Es schien die herrlichste weibliche Erscheinung, die ich je gesehen hatte. Das Antlitz blieb der Bühne so weit zugewandt, daß ich in den ersten Minuten keinen Blick darauf werfen konnte – die Gestalt aber war göttlich; kein andres Wort kann ihr wundervolles Ebenmaß wiedergeben, und selbst die Bezeichnung »göttlich« erscheint mir – nun, da ich sie niederschreibe – lächerlich unzureichend.
    Der Zauber einer schönen Frauengestalt, der weiblichen Anmut, war eine Macht, der zu widerstehen mir immer unmöglich gewesen war; hier aber sah ich personifizierte, verkörperte Anmut, das Idol meiner kühnsten und verstiegensten Visionen. Die Gestalt, die in der Loge fast ganz sichtbar war, hatte etwas über Mittelgröße und machte beinahe, wenn auch nicht ganz, den Eindruck des Majestätischen. Ihre reife Fülle und »Tournüre« waren berückend. Der Kopf, den man nur von rückwärts sah, glich in seinem Umriß dem der griechischen Psyche und wurde durch eine elegante Haube aus Schleiergaze mehr gehoben als verborgen; ich mußte an den »ventum textilem« des Apulejus denken. Der rechte Arm ruhte auf der Logenbrüstung und ließ in seiner vollendeten Harmonie jeden Nerv in mir erbeben. Sein oberer Teil war von einem der jetzt üblichen, weiten offenen Ärmel verhüllt. Er reichte noch ein wenig über den Ellbogen herab. Darunter kam ein anliegender Unterärmel aus irgendeinem zarten Gewebe zum Vorschein und endete in einer reichen Spitzenmanschette, die anmutig über den Handrücken fiel und nur die feinen Finger enthüllte, auf deren einem ein Diamantring blitzte, den ich sofort als außerordentlich wertvoll erkannte. Die herrliche Rundung des Handgelenks wurde von einem Armband vorteilhaft gehoben, das ebenfalls mit Edelsteinen geschmückt war – eine nicht zu mißdeutende Sprache für die Wohlhabenheit und den erlesenen Geschmack ihrer Trägerin.
    Ich blickte zu dieser königlichen Erscheinung wohl eine halbe Stunde hinüber, als sei ich plötzlich in Stein verwandelt, und während der Zeit fühlte ich die volle Kraft und Wahrheit alles dessen, was über »die Liebe auf den ersten Blick« gesagt und gesungen worden ist. Meine Empfindungen waren völlig anders als die, von denen ich bisher selbst in Gegenwart der berühmtesten Vertreterinnen weiblichen Liebreizes ergriffen worden war. Eine unerklärliche und, wie ich annehmen muß, magnetische Seelenneigung schien nicht nur meine Blicke, sondern alle meine Fähigkeit zum Denken und Fühlen an den verehrungswürdigen Gegenstand dort vor mir zu bannen. Ich sah – ich fühlte – ich wußte, daß ich tief, toll, unwiderstehlich verliebt war – und das, noch ehe ich nur das Antlitz des geliebten Wesens erblickt hatte. Wahrhaftig, die Leidenschaft, die mich verzehrte, war so stark, daß ich wirklich glaube, sie würde wenig oder gar nicht nachgelassen haben, selbst wenn die bis jetzt noch unbekannten Gesichtszüge sich nicht über den Durchschnitt erhoben hätten; so ungewöhnlich ist die einzig wahre Liebe – die Liebe auf den ersten Blick – und auch so wenig abhängig von den äußeren Bedingungen, die allein sie hervorzurufen und anzutreiben scheinen.
    Während ich so in Bewunderung und Schauen vertieft saß, wurde die Dame durch eine plötzliche Störung im Publikum veranlaßt, den Kopf halb mir zuzuwenden, so daß ich nun das ganze Profil erblicken konnte. Seine Schönheit übertraf noch meine Ahnungen, und dennoch war etwas daran, was mich enttäuschte, ohne daß ich genau sagen konnte, was es war. Ich sagte »enttäuschte«, aber dies ist nicht das rechte Wort. Meine Empfindungen wurden gleichzeitig beruhigt und angestachelt. Sie erlitten Einbuße, was Verzückung anbelangt, und gewannen an stiller Begeisterung – an begeisterter Ruhe. Dieser Empfindungswechsel kam vielleicht von dem madonnenhaften, mütterlichen Ausdruck des Gesichtes, und dennoch wußte ich sofort, daß er nicht ausschließlich daher kommen konnte. Da war noch etwas anderes, ein Geheimnis, das ich nicht aufzudecken vermochte, ein besonderer Zug im Gesicht, der mich ein wenig störte, während er gleichzeitig mein Interesse aufs höchste reizte. Tatsache ist, daß ich mich gerade in der Seelenverfassung befand, in der ein empfänglicher junger Mann jeder außergewöhnlichen Tat fähig ist. Wäre die Dame allein gewesen, so hätte ich zweifellos ihre Loge betreten und sie auf gut Glück angeredet; glücklicherweise hatte sie zwei

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