Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk

Titel: Edgar Allan Poe - Das gesamte Werk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edgar Allan Poe
Vom Netzwerk:
Begleiter bei sich: einen Herrn und eine auffallend schöne Frau, offenbar einige Jahre jünger als sie selbst.
    Ich wälzte tausend Pläne im Geiste herum, wie ich mich wohl er älteren der beiden Damen vorstellen oder wenigstens jetzt ihre Schönheit aus der Nähe bewundern könnte. Ich würde meinen Platz möglichst in ihre Nähe verlegt haben, doch die Tatsache, daß das Theater voll besetzt war, machte das unmöglich, und die strengen Anstandsregeln der Mode hatten seit kurzem die Benutzung des Opernglases in einem solchen Falle gebieterisch untersagt, selbst wenn ich so glücklich gewesen wäre, eines bei mir zu haben; das war aber nicht der Fall, und ich geriet daher in Verzweiflung.
    Endlich beschloß ich, mich an meinen Begleiter zu wenden.
    »Talbot,« sagte ich, »du hast ein Opernglas. Gib es mir.«
    »Ein Opernglas? – Nein! – Was sollte ich denn wohl mit einem Opernglas?« Damit wandte er sich ungeduldig zur Bühne.
    »Aber, Talbot,« fuhr ich fort und zog ihn an der Schulter, »höre mal, willst du? Siehst du die Loge? – Dort! – Nein, die nächste. Hast du je ein so entzückendes Weib gesehen?«
    »Sie ist sehr schön, gewiß«, sagte er.
    »Ich möchte wohl wissen, wer es sein mag.«
    »Ja, um des Himmels willen, weißt du denn nicht, wer sie ist? ›Von ihr nichts wissend, schilt unwissend dich.‹ Es ist die berühmte Madame Lalande – die Schönheit des Tages par excellence und das Stadtgespräch. Überdies ungeheuer wohlhabend – eine Witwe –und eine große Partie – ist gerade aus Paris angekommen.«
    »Kennst du sie?«
    »Ja – ich habe die Ehre.«
    »Willst du mich vorstellen?«
    »Gewiß – mit dem größten Vergnügen; wann soll es geschehen?«
    »Morgen, um eins; ich werde dich abholen.«
    »Sehr gut. Und nun halte den Mund, wenn es dir möglich ist.«
    In dieser Hinsicht war ich gezwungen, Talbots Rat zu befolgen; denn er blieb jeder weiteren Frage oder Bemerkung gegenüber taub und befaßte sich für den Rest des Abends ausschließlich mit den Vorgängen auf der Bühne.
    Inzwischen hielt ich meine Blicke fest auf Madame Lalande geheftet und hatte schließlich das Glück, ihr voll ins Gesicht sehen zu können. Es war ungemein lieblich; freilich hatte mein Herz mir das vorher gesagt, selbst wenn Talbot mich nicht über diesen Punkt völlig zufriedengestellt hätte – doch immer noch störte mich das unbegreifliche Etwas. Ich kam schließlich zu der Auffassung, daß meine Sinne von einem gewissen ernsten, traurigen oder besser abgespannten Ausdruck beunruhigt wurden, der den Mienen etwas von ihrer Jugend und Frische nahm, jedoch nur, um ihnen eine engelhafte Sanftmut und Majestät zu verleihen und dadurch mein Interesse kraft meiner begeisterungsfähigen und romantischen Veranlagung zehnfach zu steigern.
    Während ich meine Augen so schwelgen ließ, bemerkte ich plötzlich zu meiner großen Bestürzung an einem fast unmerklichen Zusammenzucken der Dame, daß sie auf mein beständiges Hinschauen aufmerksam geworden war. Jedoch ich blieb nun einmal völlig bezaubert und konnte den Blick auch nicht für eine Sekunde abwenden. Sie wandte den Kopf zur Seite, und wieder sah ich nur mehr die gemeißelten Linien des Hinterkopfes. Nach einigen Minuten drehte sie, wie aus Neugier, ob ich noch immer hinübersähe, mir langsam wieder das Gesicht zu und begegnete meinem brennenden Blick. Sie senkte sofort die großen dunklen Augen, und ein tiefes Erröten überzog ihre Wangen. Wie groß aber war mein Erstaunen, als sie nun den Kopf nicht zum zweiten Male abwandte, sondern sogar zu einer Lorgnette griff, die an ihrem Gürtel hing – sie erhob – an die Augen führte – und mich dann minutenlang eingehend und bedachtsam durch die Gläser betrachtete.
    Wäre der Blitz vor meinen Füßen eingeschlagen, so hätte ich nicht tiefer bestürzt sein können – nur bestürzt – nicht im geringsten verletzt oder empört; obgleich eine so dreiste Handlungsweise bei jedem andern Weibe sehr leicht verletzend oder empörend gewirkt haben würde. Die ganze Sache geschah aber mit soviel Ruhe, soviel Natürlichkeit und Haltung – kurz, mit einer so erkennbaren Wohlerzogenheit –, daß es durchaus nicht unverschämt wirkte, und ich empfand nichts anderes als Verwunderung und Überraschung.
    Ich bemerkte, daß sie sich zunächst mit einer kurzen Besichtigung meiner Person begnügte und das Glas sinken ließ. Dann aber – wie von einem neuen Gedanken ergriffen – führte sie es wiederum an die Augen und

Weitere Kostenlose Bücher