Edgar Wallace - Der grüne Bogenschütze
hier aus beherrschte man nicht nur den Eingang zu dem Pförtnerhaus, sondern auch alle anderen Stellen, von denen aus man sich dem Gebäude nähern konnte. Dort hinter den alten grauen Steinmauern, die so manche Belagerung ausgehalten und Blüte und Niedergang der englischen Ritterschaft gesehen hatten, über denen die Banner der Kreuzfahrer geweht hatten, als sie ins heilige Land zogen, stand ein Mann, der alle Gesetze der Welt verachtete.
Plötzlich schlug ein Geschoß dicht neben ihr auf der Gartenmauer ein, so daß der Stein zersplitterte. Im Nu eilte sie die Leiter hinunter, aber ein zweiter Schuß traf die Oberfläche der Mauer an der Stelle, wo sie eben gestanden hatte. Ein Steinsplitter streifte ihre Hand und verwundete sie leicht.
Bellamy hatte diese Schüsse nicht abgefeuert. Er wandte sich dem stummen Chinesen zu, der an einer anderen Schießscharte kauerte. Plötzlich packte ihn Bellamy am Arm, richtete ihn auf und schaute ihn drohend an.
»Das ist nun schon das zweitemal, daß du nach ihr geschossen hast, du dummer Kerl! Habe ich dir nicht gesagt, du sollst sie in Ruhe lassen?«
Über Sens Gesicht huschte ein merkwürdiges Lächeln, dann lud er sein Gewehr wieder.
»Schieß doch lieber auf die Büsche, wo die Polizisten sind!« sagte der Alte.
Bellamy selbst ging nach unten in sein Schlafzimmer, um die eisernen Fensterläden herunterzulassen, denn in dieser Nacht würde der Gegner eventuell versuchen, die Burg zu stürmen.
Nachdem er dies getan hatte, ging er in die Halle, um das Fallgatter zu besichtigen, das nur wenige Besucher jemals gesehen hatten. Es hing in einem Schlitz der Steinmauer, war den Blicken verborgen und konnte heruntergelassen und aufgezogen werden mit derselben Leichtigkeit, mit der man die äußeren Türen öffnen konnte. Er machte die Stricke, die sie festhielten, lose, und zog daran. Langsam kam das Gatter herunter und schloß den Eingang. Als er es unten befestigt hatte, eilte er den Gang entlang zu den Kerkerzellen.
»Sind Sie da, Featherstone?«
Jim antwortete ihm.
»Ihre Freunde sind draußen, vermutlich wissen Sie das schon!«
»Ich hörte die Schüsse.«
»Zuerst habe ich geschossen, aber jetzt haben sie Gewehre unter den Mannschaften ausgeteilt. Über Nacht werden sie irgend etwas unternehmen, Featherstone.«
Langsam kam Jim die Treppe herauf, faßte an zwei der eisernen Gitterstangen und schaute aus dem Gefängnis hinaus. »Sie werden Sie fassen, Bellamy« sagte er ruhig.
»Ja, wenn ich tot bin. Glauben Sie, daß ich mich deshalb gräme?« Er schaute gelassen in Featherstones Gesicht, der ihn unentwegt ansah. »Sie irren sich, ich bin niemals in meinem Leben so zufrieden und glücklich gewesen wie jetzt. Ich fühle mich so vergnügt, daß ich Sie und die andern alle herauslassen könnte, aber dann würde ja alles verdorben werden. Ich bin in so guter Stimmung, weil ich weiß, daß Sie hier eingesperrt sind, und weil ich weiß, daß die Polizisten draußen sind. Die Burg kann Widerstand leisten, und ich stehe hier und lache Sie aus! Das ist etwas ganz Wunderbares, Featherstone! Beneiden Sie mich nicht darum?«
»Ebenso könnte ich auch eine ekelhafte Kröte beneiden« sagte Jim. Er hatte noch rechtzeitig seine Hände fortgezogen, denn die schweren Schuhe Bellamys donnerten gegen das Eisengitter, wo er noch eben seine Finger gehabt hatte.
Jim ging wieder die Treppe hinunter und kroch zu der vergitterten Öffnung, um mit Fay zu sprechen.
»Ich muß schon sagen, dieser Abel Bellamy ist ein angenehmer junger Mann« meinte er.
»Was ist denn passiert, Featherstone? Wer schießt draußen?«
»Die Polizeitruppen – in sehr starker Zahl. Die Lage ist offenbar so ernst, daß man sie mit Gewehren bewaffnet hat. Der Alte hat sich wahrscheinlich auf ein Gefecht mit ihnen eingelassen, um die Burg zu verteidigen.«
Sie nickte.
»Dann ist es also nur noch eine Frage von Stunden« erwiderte sie ruhig. »Featherstone, was denken Sie jetzt von Julius?«
Er zögerte.
»Ich möchte nichts mehr gegen ihn sagen, nach allem, was er für mich und Miss Howett getan hat.«
»Aber Sie halten ihn doch noch für einen schlechten Menschen, nicht wahr? Sie haben gehört, wie ich ihn früher bis aufs Blut verhöhnt habe. Vielleicht glauben Sie, daß ich ihn verachte – aber das stimmt nicht. Ich liebe ihn, und oft möchte ich gern wissen, ob er es weiß. Leute wie wir kümmern sich nicht viel um Liebe, und selbst eine Trennung bedeutet uns nicht viel mehr, als daß wir gut für
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