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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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schob, gab es Anzeichen, daß das Haus in letzter Zeit
bewohnt wurde. Eine roh aus Brettern gezimmerte Tür hing im Kücheneingang;
Charity stieß sie auf und trat in einen Raum, der nach Zeltlagerart primitiv
möbliert war. Am Fenster stand ein Tisch, ebenfalls aus Brettern, mit einem
Tonkrug, der einen großen Strauß wilder Astern enthielt. Zwei mit Segeltuch
bespannte Stühle standen daneben, und in einer Ecke lag eine Matratze, mit
einer mexikanischen Decke darüber.
    Im Zimmer war niemand, und Charity
lehnte ihr Fahrrad an das Haus, stieg den Hang hinauf und setzte sich auf einen
Stein unter einem alten Apfelbaum. Die Luft war vollkommen still, und von ihrem
Platz aus würde sie das Klingeln einer Fahrradglocke von der Straße schon von
weitem hören ...
    Sie war immer froh, wenn sie vor
Harney in das Häuschen kam. Sie liebte es, Zeit dafür zu haben, jede Einzelheit
der verschwiegenen Anmut des Ortes in sich aufzunehmen – die Schatten der
Apfelbäume, die sich auf dem Gras wiegten, die alten Walnußbäume, deren Kronen
sich unterhalb der Straße wölbten, die Wiesen, die im nachmittäglichen Licht
nach Westen hin abfielen –, bevor sein erster Kuß alles auslöschte. Alles, was
nicht in Beziehung zu den an diesem friedlichen Ort verbrachten Stunden stand,
war so unbestimmt wie die Erinnerung an einen Traum. Das einzig Wirkliche war
die wundersame Entfaltung ihres neuen Ichs, das Sichausstrecken ihrer
eingezogenen Fühler zum Licht. Sie hatte ihr ganzes Leben unter Menschen
verbracht, deren Gefühle verkümmert zu sein schienen, weil sie nicht in
Anspruch genommen wurden; und wunderbarer noch als Harneys Liebkosungen waren
anfangs die Worte gewesen, die sie begleiteten. Sie hatte sich Liebe stets als
etwas Verworrenes und Heimliches vorgestellt, und er hatte daraus etwas
gemacht, was hell und klar war wie die Sommerluft.
    Einen Tag, nachdem sie ihm den Weg
zu dem verlassenen Haus gezeigt hatte, hatte er seine Sachen gepackt und war
von Creston River nach Boston aufgebrochen; aber an der ersten Station war er
mit seiner Reisetasche aus dem Zug gesprungen und zu den Hügeln hinaufgestiegen.
Zwei goldene, regenlose Augustwochen lang hatte er in dem Haus kampiert, sich
Eier und Milch von dem einsamen Bauernhof im Tal geholt, wo niemand ihn kannte,
und sich sein Essen auf einem Spirituskocher zubereitet. Er stand jeden Tag
mit der Sonne auf, machte einen Kopfsprung in den braunen Tümpel, den er
entdeckt hatte, und lag lange Stunden in dem wohlriechenden Tannenwald
oberhalb des Hauses oder wanderte am Joch des Eagle Ridge
entlang, hoch über den dunstigen blauen Tälern, die sich zwischen den endlosen
Hügeln nach Osten und Westen ausdehnten. Und an den Nachmittagen kam Charity zu
ihm.
    Von einem Teil dessen, was von ihren
Ersparnissen noch übrig war, hatte sie sich für einen Monat ein Fahrrad
gemietet, und jeden Tag nach dem Mittagessen, sobald ihr Vormund sich zu
seiner Kanzlei aufgemacht hatte, eilte sie in die Bibliothek, holte ihr Fahrrad
hervor und jagte die Straße nach Creston hinunter. Sie wußte, daß Mr. Royall,
wie jedermann in North Dormer, über ihre Erwerbung vollkommen im Bilde war:
vermutlich wußte er, so gut wie alle anderen im Dorf, welchen Gebrauch sie
davon machte. Es kümmerte sie nicht: in ihren Augen war er so machtlos, daß sie
ihm, hätte er danach gefragt, wahrscheinlich die Wahrheit gesagt hätte. Aber
sie hatten seit der Nacht am Bootssteg in Nettleton kein Wort mehr miteinander
gewechselt. Er war erst drei Tage nach jener Begegnung nach North Dormer
zurückgekommen, als Charity und Verena sich gerade zum Abendbrot hinsetzten.
Er hatte seinen Stuhl an den Tisch herangezogen, seine Serviette aus der
Büfettschublade geholt, sie aus dem Ring gezogen und sich so unbekümmert an
den Tisch gesetzt, als komme er von einer seiner üblichen Nachmittagssitzungen
bei Carrick Fry zurück; und die lange Gewohnheit des Zusammenlebens ließ es
beinahe normal erscheinen, daß Charity nicht einmal die Augen hob, als er
hereinkam. Sie hatte ihm einfach zu verstehen gegeben, daß ihr Schweigen nicht
zufällig war, indem sie vom Tisch aufstand, während er noch aß, und wortlos
nach oben ging, um sich in ihrem Zimmer einzuschließen. Danach gewöhnte er
sich an, laut und freundlich mit Verena zu sprechen, wenn Charity im Zimmer
war; doch sonst gab es keine augenfällige Veränderung in ihrer Beziehung.
    Charity dachte an diese Dinge nicht
logisch zusammenhängend, während sie dasaß und auf Harney

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