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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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dunklen Waldweg
zurück zum Dorf. Spät ging der Mond auf, kugelrund und glühend, verwandelte
das verschwommene Grau der Bergketten in massives Schwarz und erhellte den
oberen Teil des Himmels so stark, daß die Sterne so blaß waren, als spiegelten
sie sich im Wasser. Am Waldrand, eine halbe Meile von North Dormer entfernt,
sprang Harney von seinem Rad, nahm Charity zu einem letzten Kuß in die Arme und
wartete dann, während sie allein weiterfuhr.
    Sie waren später dran als sonst, und
anstatt das Fahrrad zur Bibliothek zu bringen, lehnte Charity es an die
Rückseite des Holzschuppens und betrat die Küche des roten Hauses. Verena saß
allein da; als Charity hereinkam, blickte sie sie aus sanften,
undurchdringlichen Augen an, nahm dann einen Teller und ein Glas Milch vom Bord
und stellte beides stumm auf den Tisch. Charity dankte mit einem Nicken,
setzte sich und fiel hungrig über ihr Stück Pastete her und leerte das Glas.
Ihr Gesicht brannte von der raschen Fahrt durch die Nacht, und ihre Augen waren
geblendet vom Schein der Küchenlampe. Sie kam sich vor wie ein Nachtvogel, der
plötzlich gefangen und in einen Käfig gesperrt wird.
    »Er ist seit dem Abendessen noch
nicht wieder zurück«, sagte Verena. »Er ist drüben im Rathaus.«
    Charity hörte ihr nicht zu. Im Geist
flog sie noch durch den Wald. Sie wusch den Teller und das Glas ab und tastete
sich dann die dunkle Treppe hinauf. Als sie die Tür öffnete, blieb sie wie
gebannt stehen. Ehe sie weggegangen war, hatte sie die Fensterläden gegen die
Nachmittagshitze geschlossen, aber sie waren einen Spalt weit aufgegangen, und
ein Strahl des Mondlichts, das schräg ins Zimmer fiel, lag auf ihrem Bett,
beleuchtete ein Kleid aus chinesischer Seide, das jungfräulich darauf
ausgebreitet lag. Charity hatte mehr, als sie sich leisten konnte, für das
Kleid ausgegeben, das die aller anderen Mädchen überstrahlen sollte; sie hatte
North Dormer zeigen wollen, daß sie Harneys Bewunderung würdig sei. Über dem
Kleid, auf dem Kissen zusammengefaltet, lag der weiße Schleier, den die jungen
Frauen, die an den Vorführungen teilnahmen, unter einem Asternkranz tragen
würden; und neben dem Schleier lag ein Paar zierlicher weißer Satinschuhe, die
Ally aus einem alten Koffer zutage gefördert hatte, in dem sie geheimnisvolle
Schätze aufbewahrte.
    Charity stand da und starrte auf die
ausgebreitete weiße Pracht. Sie rief ihr ein Traumbild in Erinnerung, dem sie
in der Nacht nach ihrer ersten Begegnung mit Harney nachgehangen hatte. Solche
Träume hatte sie nicht mehr, ein wärmerer Glanz war an ihre Stelle getreten ...
aber es war töricht von Ally, daß sie all diese weißen Sachen auf ihrem Bett
ausgestellt hatte, so wie Hattie Targatts Hochzeitskleid aus Springfield ausgebreitet worden war, als sie Tom Fry
heiratete, damit die Nachbarn es bestaunen konnten ...
    Charity nahm die Schuhe und besah
sie sich neugierig. Bei Tag würden sie zweifellos ein wenig abgetragen
aussehen, aber im Mondlicht schienen sie aus Elfenbein geschnitzt. Sie setzte
sich auf den Boden, um sie anzuprobieren, und sie paßten wie angegossen, nur
daß sie auf den hohen Absätzen ein wenig schwankte, als sie aufstand. Sie sah
auf ihre Füße hinab, die dank der anmutigen Form der Schuhe wunderbar gewölbt
und schmaler wirkten. Nie zuvor hatte sie solche Schuhe gesehen, nicht einmal
in den Schaufenstern in Nettleton ... nie, außer ... ja, einmal hatte sie ein
Paar von gleicher Form an Annabel Balch bemerkt.
    Schamröte überlief sie. Ally nähte
manchmal für Miss Balch, wenn dieses strahlende Geschöpf sich herabließ, nach
North Dormer zu kommen, und gewiß erhielt sie abgelegte Kleidungsstücke als
Geschenk: die Schätze in dem geheimnisvollen Koffer stammten alle von den
Leuten, für die sie arbeitete. Es konnte keinen Zweifel geben, daß die weißen
Schuhe Annabel Balch gehört hatten ...
    Als sie so dastand und bedrückt auf
ihre Füße starrte, hörte sie das dreimalige Kling-ling-ling einer Fahrradglocke
unter ihrem Fenster. Es war Harneys Geheimsignal, wenn er auf dem Heimweg
vorbeifuhr. Sie stolperte auf den hohen Absätzen zum Fenster, stieß die Läden
auf und lehnte sich hinaus. Er winkte ihr zu und flog vorbei, und sein
schwarzer Schatten tanzte fröhlich auf der verlassenen, mondbeschienenen Straße
vor ihm her; sie lehnte am Fenster und sah ihm nach, bis er unter den Rottannen
des Hatchardschen Anwesens verschwand.

13
    Das Rathaus war voller Menschen, und es war erstickend
heiß

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