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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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wahr? Und natürlich habe North Dormer so
viele Vereine ... historische, literarische (hier folgte ein pietätvoller
Seufzer im Gedenken an Honorius) und kirchliche ... er kenne doch bestimmt das
alte zinnerne Kommunionsservice, das 1769 aus England importiert worden war?
Und es sei so wichtig, in einer reichen, materialistischen Epoche das Beispiel
zu geben, wie man zu den alten Idealen Familie und Heim zurückkehre – und so
weiter. Mit diesen abschließenden Worten erreichte sie gewöhnlich wieder die
Mitte der Diele, so daß die Mädchen ihre unterbrochene Arbeit wieder aufnehmen
konnten.
    Der Tag, an dem Charity Royall
Girlanden aus Tannenzweigen für die Prozession flocht, war der letzte vor dem
Fest. Als Miss Hatchard die jungen Mädchen von North Dormer zur Mitarbeit an
den Festvorbereitungen aufforderte, hatte Charity zunächst gezögert; aber man
hatte ihr deutlich gemacht, daß ihr Fernbleiben zu Mutmaßungen Anlaß geben
könnte, und so hatte sie sich widerstrebend den anderen Helferinnen
angeschlossen. Die Mädchen, die anfangs scheu und verlegen waren und auch nicht
wußten, welcher Art genau die geplante Gedenkfeier sein sollte, hatten bald Interesse
an den unterhaltsamen Details ihrer Aufgabe gefunden und waren gepackt durch
die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde. Um nichts in der Welt hätten sie
die Nachmittage bei Miss Hatchard versäumt, und während sie zuschnitten,
nähten, drapierten und klebten, begleiteten ihre Zungen so eifrig das Rattern
der Nähmaschine, daß Charitys Schweigen unter dem ganzen Geplauder unbemerkt
Zuflucht fand.
    Innerlich war sie sich der heiteren
Betriebsamkeit um sie herum auch jetzt noch kaum bewußt. Seit ihrer Rückkehr
ins rote Haus am Abend jenes Tages, als Harney sie auf ihrem Weg zum Berg
eingeholt hatte, lebte sie in North Dormer wie in einem luftleeren Raum. Sie
war zurückgekehrt, weil Harney, der zunächst, wie es schien, ebenfalls der
Ansicht gewesen war, sie könne es unmöglich tun, sie schließlich davon
überzeugt hatte, daß jeder andere Weg Wahnsinn sei. Sie habe nichts mehr von
Mr. Royall zu befürchten. Dessen sei sie sicher, hatte sie erklärt, freilich
nicht das hinzugefügt, was ihn hätte entlasten können, daß er ihr nämlich
zweimal die Ehe angetragen hatte. Ihr Haß auf ihn machte es ihr im Augenblick
unmöglich, etwas zu sagen, was ihn in Harneys Augen zum Teil hätte entschuldigen
können.
    Harney aber, einmal davon überzeugt,
daß ihr nichts zustoßen werde, hatte tausend Gründe gefunden, um sie zur
Rückkehr zu bewegen. Der erste und unwiderlegbarste war, daß sie nirgendwo
anders hingehen könne. Aber der, dem er den größten Nachdruck verlieh, war
der, daß Flucht einem Geständnis gleichkäme. Wenn – was kaum zu vermeiden war —
Gerüchte über die skandalöse Szene in Nettleton nach North Dormer dringen
sollten, wie sonst konnte ihr Verschwinden dann gedeutet werden? Ihr Vormund
hatte sie in aller Öffentlichkeit bloßgestellt, und unmittelbar danach
verschwand sie aus seinem Haus. Wer nach Gründen forschte, konnte kaum umhin,
unfreundliche Schlüsse zu ziehen. Wenn Charity hingegen sofort zurückginge und
ihr normales Leben weiterführte, würde man den Zwischenfall als das betrachten,
was er in Wirklichkeit war – als den Zornausbruch eines betrunkenen alten
Mannes, der tobte, weil man ihn in verrufener Gesellschaft überrascht hatte.
Es würde heißen, Mr. Royall habe sein Mündel beleidigt, um sich selbst zu
rechtfertigen, und die unerquickliche Geschichte würde den ihr gebührenden
Platz in den Annalen seiner undurchsichtigen Ausschweifungen finden.
    Charity sah die Stärke dieses
Arguments; doch wenn sie sich fügte, dann nicht so sehr deshalb, als vielmehr
weil es Harneys Wunsch war. Seit jenem Abend in dem verlassenen Haus konnte sie
sich keinen Grund vorstellen, warum sie etwas tun oder lassen sollte, außer
daß Harney etwas wollte oder nicht wollte. Alle ihre sprunghaften,
widersprüchlichen Gemütsbewegungen lösten sich in einer fatalistischen Hinnahme
seines Willens auf. Nicht, daß sie bei ihm irgendeine Überlegenheit im Charakter
gespürt hätte – es gab bereits Augenblicke, in denen sie wußte, daß sie die
Stärkere war –, aber alles übrige im Leben war nur noch ein trüber Rand um den
glänzenden Mittelpunkt ihrer Leidenschaft. Wann immer sie einen Augenblick
nicht daran dachte, fühlte sie sich so wie manchmal, wenn sie im Gras gelegen
und zu lange in den Himmel geblickt hatte; ihre Augen waren

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