Edith Wharton
verstummte, als
schreckten seine Gedanken vor dem zurück, was sie ihm enthüllt hatte.
»Ich geh' nie mehr dorthin zurück«,
wiederholte sie verbissen.
»Nein ...«, stimmte er zu.
Es folgte ein langes Schweigen,
während dessen Charity meinte, er suche in ihrem Gesicht nach mehr Aufklärung
über das, was sie ihm anvertraut hatte; und Schamröte stieg ihr ins Gesicht.
»Ich weiß, was du von mir denken
mußt«, stieß sie hervor, »wenn ich dir solche Dinge erzähle ...«
Doch während sie sprach, wurde ihr
erneut bewußt, daß er nicht mehr zuhörte. Er kam näher und preßte sie an sich,
als entreiße er sie einer drohenden Gefahr. Leidenschaftlich blickte er ihr in
die Augen, und sie fühlte das heftige Pochen seines Herzens, während er sie an
seine Brust drückte.
»Küß mich noch einmal – wie gestern
abend«, sagte er und strich ihr das Haar zurück, als wolle er ihr ganzes
Gesicht in seinen Kuß saugen.
12
Eines Nachmittags gegen Ende August saß eine Gruppe
junger Mädchen in einem Zimmer im Haus von Miss Hatchard inmitten eines fröhlichen
Durcheinanders aus Flaggen, knallrotem, blauem und weißem Glanzmusselin,
Erntegarben und farbigen Schriftbändern.
North Dormer bereitete sich auf
seine Heimatwoche vor. Diese Form von sentimentalem Provinzialismus steckte
damals noch in ihren Anfängen, und da es wenig Präzedenzfälle gab und der
Wunsch, ein Beispiel zu geben, ansteckend wirkte, war die Angelegenheit zu einem
Gegenstand ausführlicher und leidenschaftlicher Diskussionen unter Miss
Hatchards Dach geworden. Die Anregung zu den Festlichkeiten war mehr von jenen
ausgegangen, die North Dormer verlassen hatten, als von jenen, die gezwungen
waren, hier zu leben, und es war nicht ganz einfach, im Dorf die rechte
Begeisterung zu entfachen. Aber Miss Hatchards heller, steifer Salon war das Zentrum
eines fortwährenden Kommens und Gehens aus Hepburn, Nettleton, Springfield und
sogar aus noch weiter entfernten Städten; und wann immer ein Besucher eintraf,
wurde er durch die Diele geführt und durfte einen Blick auf die Gruppe Mädchen
werfen, die in ihre anmutigen Vorbereitungen vertieft war.
»All die alten Namen ... all die
alten Namen ...«, hörte man Miss Hatchard sagen, während sie an ihren Krücken
durch die Halle tappte. »Targatt ... Sollas ... Fry: das ist Miss Orma Fry, die
hier die Sterne auf die Drapierung für die Orgelempore näht. Bleibt sitzen,
Mädchen ... und das ist Miss Ally Hawes, unsere geschickteste Näherin ... und
Miss Charity Royall, die unsere Girlanden aus Immergrün flicht ... Mir gefällt,
daß alles selbstgemacht ist, Ihnen nicht auch? Wir haben uns um keine Talente
von außerhalb bemühen müssen: mein junger Cousin, Lucius Harney, der Architekt – wissen Sie, er ist hier, um an einem Buch über Häuser aus der Kolonialzeit zu
arbeiten –, er hat das Ganze so geschickt in die Hand genommen; aber Sie müssen
sich seinen Entwurf für die Bühne ansehen, die wir im Rathaus errichten
werden.«
In der Tat war eines der ersten
Ergebnisse der Aufregungen um die Heimatwoche gewesen, daß Lucius Harney
wieder auf der Dorfstraße aufgetaucht war. Es hatte vage geheißen, er sei nicht
weit weg, aber einige Wochen lang hatte ihn niemand in North Dormer gesehen,
und erst unlängst war berichtet worden, er habe Creston River verlassen, wo er
sich angeblich aufgehalten hatte, und sei endgültig aus der Gegend verschwunden.
Bald nach Miss Hatchards Rückkehr bezog er jedoch wieder sein altes Quartier
in ihrem Haus und begann bei der Planung der Festlichkeiten eine führende
Rolle zu übernehmen. Er stürzte sich ausgesprochen wohlgelaunt auf das Vorhaben, war so
fruchtbar in seinen Entwürfen und so unerschöpflich in seinen Einfällen, daß
er der ziemlich lustlos betriebenen Unternehmung sofort Auftrieb gab und das
ganze Dorf mit seiner Begeisterung ansteckte.
»Lucius hat soviel Sinn für die
Vergangenheit, daß er in uns allen ein Gefühl unserer Privilegiertheit geweckt
hat«, pflegte Miss Hatchard zu sagen, wobei sie bei dem Wort »Privilegiertheit«
verweilte, das eines ihrer Lieblingswörter war. Und bevor sie den Besucher in
den Salon zurückführte, wiederholte sie zum hundertsten Mal, er halte es
vermutlich für sehr kühn, daß das kleine North Dormer damit angefangen habe,
eine eigene Heimatwoche zu veranstalten, wo doch so viele größere Orte noch
nicht auf diese Idee gekommen seien; aber schließlich seien Vereine wichtiger
als die Zahl der Einwohner, nicht
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