Edith Wharton
darin. Als Charity hineinschritt, die dritte der in weißen Musselin
gekleideten und von Orma Fry angeführten Reihe, nahm sie vor allem wahr, wie
prächtig sich die bekränzten Säulen ausnahmen, die die grün ausgelegte Bühne
rahmten, auf die sie zuging, und wie fremd ihr die Gesichter waren, die sich in
den vordersten Reihen umwandten, um die nahende Prozession zu betrachten.
Aber alles war nur ein verwirrendes
Durcheinander von Gesichtern und Farben, bis sie sich schließlich im hinteren
Teil der Bühne wiederfand, ihren großen Strauß aus Astern und Goldruten
ordentlich vor sich in der Hand, und den nervösen Blick von Lambert Sollas, dem
Organisten aus Mr. Miles' Kirche, erwiderte, der von Nettleton hergekommen war,
um das Harmonium zu spielen, nun dahinter Platz genommen hatte und mit seinem
Dirigentenblick die Reihe der aufgeregten Mädchen überflog.
Einen Augenblick später tauchte Mr.
Miles rosig und augenzwinkernd aus dem Hintergrund auf, als segelte er in
seinem weiten weißen Gewand heran, und über ragte im Nu die gesenkten Häupter
in den vordersten Reihen. Er betete mit Nachdruck und kurz und zog sich dann
zurück, und ein wildes Kopfnicken von Lambert Sollas mahnte die Mädchen, daß
sie nun gleich mit »Home, Sweet Home« folgen würden. Für Charity war es eine
Freude zu singen: es schien, als könne ihre heimliche Verzückung zum erstenmal
aus ihr hervorbrechen und der Welt ihren Trotz entgegenschleudern. All das
Glühen ihres Blutes, der Atem der sommerlichen Erde, das Rauschen des Waldes,
der fröhliche Vogelgesang bei Sonnenaufgang, die drückende Mattigkeit am
Mittag – all das schien sich in ihrer ungeschulten Stimme auszudrücken, die
emporgetragen und geführt wurde vom gesamten Chor.
Und dann war plötzlich das Lied zu
Ende, und nach einer ungewissen Pause, in der Miss Hatchards perlgraue
Handschuhe verstohlen Zeichen zum Saalende hin gaben, tauchte Mr. Royall auf,
stieg die Stufen zur Bühne hinauf und erschien hinter dem blumenbekränzten
Rednerpult. Er ging dicht an Charity vorbei, und sie bemerkte, daß sein
feierlich-starres Gesicht den majestätischen Ausdruck trug, der sie in ihrer
Kindheit stets erschreckt und fasziniert hatte. Sein Gehrock war sorgfältig
gebürstet und geplättet, und die Enden seiner schmalen schwarzen Schleife waren
beinahe gleich lang, so daß ihn das Binden einen langen Kampf gekostet haben
mußte. Sein Aussehen fiel ihr um so mehr auf, als sie ihm zum ersten Mal direkt
ins Gesicht blickte seit der Nacht in Nettleton, und nichts an seinem
feierlichen und eindrucksvollen Auftreten zeigte auch nur mehr eine Spur der
kläglichen Gestalt am Bootssteg.
Er stand einen Augenblick hinter dem
Rednerpult, die Fingerspitzen leicht aufgestützt, und verbeugte sich leicht zum
Publikum; dann richtete er sich auf und begann.
Zunächst achtete sie nicht auf das,
was er sagte: nur Satzbruchstücke, klangvolle Zitate, Anspielungen auf berühmte
Männer, wobei der pflichtschuldige Tribut an Honorius Hatchard nicht fehlte,
rauschten an ihren unaufmerksamen Ohren vorbei. Sie versuchte, Harney unter den
Ehrengästen in der vordersten Reihe zu entdecken; doch er war nirgendwo in der
Nähe von Miss Hatchard, die, bekrönt von einem perlgrauen Hut, der zu ihren
Handschuhen paßte, direkt vor dem Pult saß, flankiert von Mrs. Miles und einer
bedeutend aussehenden fremden Dame. Charity saß fast ganz am einen Ende der
Bühne, und von dort aus wurde die Sicht auf das andere Ende der vordersten
Reihe durch die Zweige verdeckt, die das Harmonium verbargen. Die Anstrengung,
an dem Schirm aus Laub vorbei oder durch die Lücken dazwischen Harney zu
erspähen, ließ sie alles andere vergessen; doch die Mühe war vergeblich, und
allmählich wurde ihre Aufmerksamkeit durch die Rede ihres Vormunds gefesselt.
Sie hatte ihn nie zuvor in der
Öffentlichkeit reden hören, aber der getragene Klang seiner Stimme war ihr
vertraut von den Malen, da er laut vorlas oder vor den Gemeinderäten, die sich
bei Carrick Fry um den Ofen versammelt hatten, seine Reden schwang. Heute er
klang seine Stimme voller und feierlicher, als sie sie je zuvor vernommen
hatte: er sprach langsam, mit Pausen, die seine Zuhörer zum stummen Mitdenken
aufzufordern schienen; und Charity bemerkte das Licht der Anteilnahme auf
ihren Gesichtern.
Er kam zum Ende seiner Ansprache. »... Die meisten von euch«, sagte er, »die meisten von euch, die heute hierher
zurückgekehrt sind, um für kurze Zeit wieder die Verbindung
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