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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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wartete, sondern
sie blieben ihr gegenwärtig als düsterer Hintergrund, vor dem ihre kurzen
Stunden mit ihm wie Waldbrände aufloderten. Nichts sonst war von Bedeutung,
weder Gutes noch Böses, oder das, was ihr vielleicht so erschienen war, ehe sie
ihn kannte. Er hatte sie mitgenommen und in eine neue Welt entführt, aus der zu
bestimmten Stunden das Gespenst ihrer selbst zurückkehrte, um gewisse
Gewohnheitshandlungen auszuführen, doch so oberflächlich und unwirklich, daß
sie sich zuweilen darüber wunderte, daß die Leute, zwischen denen sie
herumging, sie anscheinend sehen konnten ...
    Hinter dem düsteren Berg war die
Sonne in spiegelndem Gold untergegangen. Von einer Weide den Hang hinauf klang
das Läuten von Kuhglocken; ein Rauchwölkchen hing über dem Bauernhof im Tal,
schwebte in der klaren Luft und verschwand. Ein paar Minuten lang zeichneten
sich in dem klaren Licht, das ganz aus Schatten bestand, Felder und Wälder mit
unwirklicher Deutlichkeit ab; dann löschte die Dämmerung sie aus, und das
kleine Haus wurde wieder grau und geisterhaft unter den dürren Apfelzweigen.
    Charitys Herz krampfte sich
zusammen. Der erste Einbruch der Dämmerung nach einem strahlenden Tag gab ihr
oft das Gefühl einer versteckten Bedrohung: es war, als blicke man auf die
Welt, wie sie sein würde, wenn die Liebe daraus verschwunden wäre. Sie fragte
sich, ob sie eines Tages an diesem Platz säße und vergeblich nach ihrem
Liebsten Ausschau hielte ...
    Die Klingel seines Fahrrads ertönte
vom Weg her, und im Nu war sie am Tor, und seine Augen lachten in ihre. Sie
gingen durch das hohe Gras zurück und stießen die Tür an der Rückseite des
Hauses auf. Das Zimmer wirkte zunächst ganz dunkel, und sie mußten sich Hand
in Hand hineintasten. Im Fensterrahmen wirkte der Himmel hell im Vergleich, und
über der schwarzen Masse der Astern in dem Tonkrug schimmerte ein einzelner
weißer Stern wie ein Nachtfalter.
    »Es gab im letzten Augenblick noch
so viel zu tun«, erklärte Harney, »und ich mußte nach Creston fahren und
jemanden abholen, der das Fest über bei meiner Tante wohnt.«
    Er hatte seine Arme um sie gelegt,
und seine Küsse waren auf ihren Lippen und in ihrem Haar. Unter seiner
Berührung drängten Dinge ans Licht, die tief in ihr verborgen waren, und öffneten
sich wie Blumen im Sonnenschein. Charity verflocht ihre Finger mit den seinen,
und Seite an Seite setzten sie sich auf die behelfsmäßige Lagerstatt. Sie
hörte kaum die Entschuldigungen für seine Verspätung: in seiner Abwesenheit
wurde sie von tausend Zweifeln gequält, aber sobald er auftauchte, fragte sie
sich nicht mehr, woher er kam, wes halb er sich verspätet, wer ihn von ihr
ferngehalten hatte. Es schien, als müßten die Orte, an denen er gewesen, und
die Menschen, mit denen er zusammengetroffen war, aufhören zu existieren, wenn
er sie verließ, genauso wie ihr eigenes Leben während seiner Abwesenheit zum
Stillstand kam.
    Er fuhr nun fort, wortreich und
munter auf sie einzureden, bedauerte sein Zuspätkommen, murrte darüber, daß
man seine Zeit so sehr in Anspruch nehme, und ahmte gutgelaunt Miss Hatchards
wohltätige Aufregung nach. »Sie hat in aller Eile Mr. Miles losgeschickt, um
Mr. Royall zu bitten, er möge morgen im Rathaus eine Rede halten: ich erfuhr
erst davon, als es schon ausgemacht war.« Charity sagte nichts, und er fügte
hinzu: »Schließlich ist es vielleicht gut so. Niemand außer ihm wäre dazu
imstande.«
    Charity gab keine Antwort: es war
ihr gleichgültig, welche Rolle ihr Vormund bei der morgigen Feier spielte. Wie
alle anderen Gestalten, die ihre enge Welt bevölkerten, existierte er für sie
nicht mehr. Sie hatte sogar aufgehört, ihn zu hassen.
    »Morgen werde ich dich nur von
weitem sehen«, fuhr Harney fort. »Aber am Abend ist dann der Ball im Rathaus.
Willst du, daß ich dir verspreche, mit keinem anderen Mädchen zu tanzen?«
    Mit keinem anderen Mädchen? Gab es
denn andere? Sogar diese Gefahr hatte sie vergessen, so abgekapselt schienen er
und sie in ihrer geheimen Welt. Ihr Herz machte einen erschreckten Satz.
    »Ja, versprich es.«
    Er lachte und nahm sie in seine
Arme. »Du Gänschen – nicht einmal, wenn sie häßlich sind?«
    Er strich ihr das Haar aus der
Stirn, beugte ihr Gesicht nach hinten, wie es seine Art war, und neigte sich
vor, so daß sein Kopf sich schwarz zwischen ihren Augen und dem blassen Himmel
abzeichnete, an dem der weiße Stern dahinschwebte ...
    Seite an Seite radelten sie den

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