Edith Wharton
dann so erfüllt vom
Licht, daß alles um sie her verschwamm.
Jedesmal, wenn Miss Hatchard im
Laufe ihrer periodisch wiederkehrenden Vorstöße in das Arbeitszimmer eine
Anspielung auf ihren jungen Cousin, den Architekten, fallen ließ, hatte dies
auf Charity die gleiche Wirkung. Sie ließ dann die Girlande aus Tannenzweigen
auf die Knie sinken und versank in eine Art Trance. Es war so offenkundig
widersinnig, daß Miss Hatchard auf diese vertraulich besitzergreifende Art von
Harney sprach, als ob sie irgendeinen Anspruch auf ihn hätte oder ihn auch nur
im geringsten kennte. Sie, Charity Royall, war der einzige Mensch auf Erden,
der ihn wirklich kannte, ihn kannte von den Sohlen seiner Füße bis zum
zerzausten Schopf seiner Haare, das wechselnde Licht in seinen Augen kannte
und die Modulationen seiner Stimme, alles kannte, was er liebte und ablehnte,
und alles, was es an ihm zu kennen galt, so detailliert und zugleich so unbewußt,
wie ein Kind die Wände des Zimmers kennt, in dem es jeden Morgen aufwacht.
Dieses Wissen war es, von dem niemand in ihrer Umgebung etwas ahnte und das
niemand verstanden hätte, das ihr Leben zu etwas anderem und Unantastbarem
machte, als vermöchte nichts sie zu verletzen oder zu erschrecken, solange ihr
Geheimnis gewahrt blieb.
Der Raum, in dem die Mädchen
arbeiteten, war eben der, der Harneys Schlafzimmer gewesen war. Harney war nach
oben umquartiert worden, um für die Heimatwochen-Helferinnen Platz zu
schaffen; die Möbel aber waren nicht umgeräumt worden, und wenn Charity bei
der Arbeit saß, hatte sie beständig das Bild vor Augen, das sie aus dem
mitternächtlichen Garten erblickt hatte. Der Tisch, an dem Harney gesessen
hatte, war der, um den die Mädchen nun versammelt waren; und Charitys Platz war
in der Nähe des Bettes, auf dem sie ihn hatte liegen sehen. Manchmal, wenn die
anderen nicht guckten, beugte sie sich vor, als wolle sie etwas aufheben, und
legte ihre Wange einen Augenblick auf das Kissen.
Gegen Sonnenuntergang gingen die
Mädchen auseinander. Ihre Arbeit war getan, und am nächsten Morgen bei
Tagesanbruch würden die Draperien und Girlanden befestigt und die farbigen
Schriftbänder im Rathaus angebracht werden. Die ersten Gäste sollten
rechtzeitig zum mittäglichen Bankett, das unter einem Zelt auf Miss Hatchards
Grundstück stattfinden sollte, von Hepburn herübergefahren kommen; und danach
sollten die Feierlichkeiten beginnen. Blaß vor Erschöpfung und Aufregung
bedankte sich Miss Hatchard bei ihren jungen Helferinnen und winkte ihnen, auf
ihre Krücken gestützt, von der Veranda zum Abschied zu, während sie ihnen
nachsah, wie sie in Grüppchen die Straße hinuntergingen.
Charity war als eine der ersten davongehuscht;
aber am Tor hörte sie, wie Ally Hawes ihr nachrief, und sie wandte sich
widerstrebend um.
»Willst du nicht mit rüberkommen und
dein Kleid anprobieren?« fragte Ally und sah sie voll sehnsüchtiger
Bewunderung an. »Ich möchte sichergehen, daß die Ärmel nicht mehr solche Falten
ziehen wie gestern.«
Charity sah sie mit
zusammengekniffenen Augen an. »Ach, es ist doch schön«, sagte sie und eilte
weiter, ohne auf Allys Protest zu hören. Sie wollte, daß ihr Kleid so hübsch
wäre wie die der anderen Mädchen – wollte, um genau zu sein, daß es die der
anderen übertrumpfe, da sie bei den »Vorführungen« mitwirken sollte –, aber sie
hatte gerade jetzt keine Zeit, um sich mit solchen Dingen zu beschäftigen ...
Sie hastete die Straße entlang zur
Bibliothek, deren Schlüssel sie um den Hals trug. Aus dem Durchgang an der
Rückseite zerrte sie ein Fahrrad hervor und schob es zum Straßenrand. Sie
blickte sich um, ob eines der Mädchen sich nähere; aber sie waren gemeinsam in
Richtung Rathaus davongeschlendert, und sie sprang auf den Sattel und bog in
die Straße nach Creston ab. Fast die ganze Strecke ging es bergab, und die Füße
auf die Pedale gestemmt, flog sie durch den stillen Abend dahin wie
einer der Falken, die sie oft auf reglosen Schwingen abwärts hatte gleiten sehen.
Zwanzig Minuten, nachdem sie aus Miss Hatchards Haustür getreten war, bog sie
in den Waldweg ein, auf dem Harney sie am Tag ihrer Flucht eingeholt hatte; und
ein paar Minuten später sprang sie vor dem Tor des verlassenen Hauses von ihrem
Fahrrad.
In dem goldbestäubten
Sonnenuntergang sah es mehr denn je wie eine zerbrechliche Muschel aus, die
viele Jahreszeiten getrocknet und ausgewaschen hatten; aber auf der Rückseite,
wohin Charity ihr Fahrrad
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