Effington 06 - Verborgene Verheissung
war Gwen zu der verblüffenden Erkenntnis gelangt, dass sie zum vielleicht ersten Male an einen Ort gehörte. Sie war keine Außenseiterin im eigenen Zuhause, und Pennington House war tatsächlich bereits ihr Zuhause. Und nicht nur gehörte sie an einen Ort, sie gehörte auch zu einem Menschen. Zu einer Familie. Zu Marcus und seiner Mutter und ihren Nichten. Sie wurde gemocht, und das war ein wunderbares Gefühl.
Nie hatte sie sich solches Glück vorstellen können. Echtes, wahres Glück. Sie konnte es im Spiegel erkennen. Ihre Haut schimmerte, und die Augen leuchteten. Sie trug ein beinahe albernes Lächeln auf dem Gesicht. Zu den unpassendsten Gelegenheiten hatte sie das Bedürfnis zu lachen. Ihr Schritt war leicht, so wie ihr Herz.
Es hatte nichts mit den neuen Kleidern zu tun, so bezaubernd sie auch waren, und es hatte auch nur wenig mit diesem neuen Leben zu tun, in das sie hineingestolpert war. Die Schuld oder das Verdienst an diesem außergewöhnlichen Glücksgefühl trug ihr neuer Ehemann.
Marcus.
Die bloße Erwähnung seines Namens zauberte ein törichtes, benommenes Lächeln auf ihre Lippen. Er war möglicherweise der wundervollste Mensch, dem sie je begegnet war. Er war rücksichtsvoll und aufmerksam und brachte sie mehr zum Lachen, als sie für möglich gehalten hätte. Zudem behandelte er sie, als sei sie wirklich ein wichtiger Mensch für ihn. Als wäre ihm an ihren Gedanken und Meinungen gelegen. Und wenn er sie in die Arme nahm, bestand die gesamte Welt nur noch aus ihnen beiden.
Sie mochte Marcus sehr. Natürlich hegte sie auch für seinen Freund Lord Berkley Sympathie, der ziemlich häufig da zu sein schien, aber das war etwas ganz anderes. Sie mochte Berkley wie einen Freund, obwohl sie natürlich noch nie einen männlichen Freund gehabt hatte. Sie fand ihn recht amüsant und genoss nichts so sehr, wie ihrem Mann und Berkley bei ihren manchmal scharfsinnigen, immer humorvollen Gesprächen zuzuhören. Die beiden Männer waren sich so nah wie Brüder, und Gwen war erleichtert, dass Berkley sie zu billigen schien. Und auch erleichtert, dass sie seine Gesellschaft genoss.
Doch ihre Gefühle Marcus gegenüber waren vollkommen anderer Natur. Sie mochte ihren Mann als das, was er war: ihren Liebhaber. Sie war allerdings nicht in ihn verliebt und hatte auch nicht die Absicht, ihn zu lieben. Doch sie verspürte ein gewisses Maß an Zuneigung für ihn. Es gelüstete sie nach ihm, ja, so konnte man es ausdrücken.
Sie nickte ihrem Spiegelbild ein letztes Mal zu und schritt die Treppen hinunter, wobei sie den leichten Schmerz und die Verspanntheit ignorierte, die eine Folge der letzten Nächte waren. Eines der Dienstmädchen hatte sie darüber informiert, dass ein Besucher im Salon auf sie wartete, und sie nahm an, es war einer der unzähligen Menschen, die die neue Countess of Pennington kennen lernen wollten. Die Countess of Pennington. Sie verbiss sich ein Schmunzeln.
Sie fühlte sich keineswegs wie eine Countess, obwohl jeder sie so behandelte, vom Besucher bis zum Lieferanten. Durch ihre Heirat bewegte sie sich plötzlich in einer Welt, die sie vorher nicht gekannt hatte, was zum einen erschreckend und zum anderen großer Spaß war. Lady Pennington — Helena — Mama hatte sie mit zu ihrem eigenen Schneider sowie Schuster und Hutmacher genommen, bis Gwen den Überblick über die Geschäfte und Ausstatter verloren hatte. Es war erschöpfend, doch auch überaus anregend, in Bahnen feiner, farbenfroher Seide gewickelt zu werden, um zu sehen, welcher Stoff ihre blauen Augen am besten zur Geltung brachte. Oder Handschuhe zu probieren, die wie eine zweite Haut passten. Oder Schuhe, die so geschmeidig waren, dass sie sich an ihre Füße schmiegten. Das Einkaufen brachte außerdem jeden Tag eine ausgezeichnete Entschuldigung mit sich, die Mädchen zu besuchen.
Sie runzelte die Stirn beim Gedanken an ihre Nichten. Zwar schienen sie die Mädchen mit jedem Besuch mehr zu mögen — beziehungsweise Patience und Hope schienen sie mehr zu mögen, Charity tolerierte sie lediglieh —, doch jeder Besuch erinnerte auch an ihre andauernde Täuschung. Gut, sie hatte die Mädchen Marcus gegenüber nie erwähnt, daher redete sie sich selbst gern ein, ihn nie wirklich belogen zu haben. Er jedoch würde wahrscheinlich das Verschweigen ihrer Existenz und den heimlichen Aufenthalt bei Madame und Colette zumindest als einen Betrug auffassen. Jedenfalls glich ihr Verhalten einer Lüge.
Sie wollte es ihm sagen. Jeden Tag
Weitere Kostenlose Bücher