Egeland, Tom
zu denken. Das würde die Qumran-Funde und Tutench-Amun in den Schatten stellen. Wir wären dann wohl gezwungen, die Religionsgeschichte neu zu schreiben. «
∗ ∗ ∗
I ch kann es nicht lassen, ich muss mich einfach selbst fragen, ob es das Q-Manuskript ist, das sich im Innern des goldenen Schreins verbirgt, umhüllt von modrigem Holz und einer Plastiktüte, versteckt in einer Tasche in Rogers Wohnung.
Wäre ich die Hauptperson in einem Film, würde ich sicher das Holz herunterkratzen und den Schrein aufhebeln, um meine Neugier (und die des Publikums) zu befriedigen. Aber ich bin ein denkender Mensch –ein seriöser, vorsichtiger Forscher. Ein Schrein, der so alt ist und der so viele Jahre im Boden gelegen hat, darf nicht wie irgendeine Konservendose geöffnet werden. Das muss mit der größten Sorgfalt und Finesse gemacht werden. Von Fachleuten. Wie man eine Muschel öffnet, um eine Perle herauszuholen, ohne die Muschel zu verletzen. Wenn ich mich hinreißen lasse, hastig und gespannt nach dem Inhalt zu gieren, riskiere ich eine Katastrophe. Im besten Fall beschädige ich dann den Inhalt. Ohne überhaupt verstanden zu haben, was ich eigentlich gefunden habe. Ich bin nicht sonderlich gut in Altgriechisch, Hebräisch, Aramäisch oder Koptisch. Im schlimmsten Fall kann alles vor die Hunde gehen. Altes Pergament und Papyrus können über Nacht zu Staub werden.
Aber ich weiß: Der Schrein muss geschützt werden.
3
DIE AUSSTRAHLUNG MANCHER Frauen geht direkt in meine Hypophyse.
Sie ist groß, hat rötliche Haare, grüne Augen, schmale Lippen und einen Anflug von Sommersprossen. Der Rock umspielt flatternd ihre langen Beine. Ein breiter, silberner Gürtel strafft sich um ihre Hüfte. Unter der Baumwollbluse ahne ich die Schwere ihrer Brüste.
Zwei Jahre lang war ich in sie verliebt. Ich hoffe, sie weiß das nicht, fürchte aber, sie tut es. Jetzt steht sie mit dem gleichen schiefen Lächeln, das mich dereinst verzaubert hat, vor mir in der Türöffnung. Sie heißt Kristin und ist Caspars Frau. Wenn man Kristin nicht kennt, würde man sie für eine Textilkünstlerin oder ein Aktmodell halten oder für die Trapezartistin eines Wanderzirkus. Aber Kristin ist Volkswirtschaftlerin. Abteilungsleiterin im Landesamt für Statistik. Als wir in Blindem studierten, wohnten Kristin und Caspar in einer Wohngemeinschaft im Maridalsvei. In einer Riesenbude. Jaz z u nd Bluesrock. Die Wochenenden waren da immer eine einzige lange Fete.
Wohngemeinschaften sind nichts für mich. Dieser verkrampfte Zusammenhalt. Das ewige Genörgel. Der Berg von Stiefeln und Schuhen im Flur. Die nassen Unterhosen der anderen auf den Leinen im Waschkeller. Das Gestreite. Die nicht enden wollenden Nachmittage im Gemeinschaftsraum, im vollen Licht der Sonne, die durch die Fenster hereinscheint. Immer irgendjemand, der mitbekommt, was du tust. Der dich hört, wenn du aufs Klo gehst. Der mit dir über einen Film oder ein Buch reden will oder Karten spielen oder der dich zum Teufel schickt, wenn du dir eine Kippe schnorren willst. Der aufpasst, wann du mit dem Abwasch an der Reihe bist. Die unleserlichen Signaturen auf dem Putzplan. Die WG-Abende, Gemeinschaft, Solidarität, Reibereien, Erotik, Abstimmungen, Selbstkritik. Nichts für mich.
Als ich einmal am Wochenende dort übernachtete, haben Caspar und Kristin auf der Matratze neben mir am Boden still miteinander geschlafen. Es war früh am Morgen. Der Raum war von weichem Licht erfüllt. Ich tat so, als schliefe ich, und sie taten so, als glaubten sie das. Ich erinnere mich noch an ihr unterdrücktes Stöhnen, die wogenden Körper, Caspars schweren Atem durch die Nase, die Geräusche, Gerüche. Am Morgen taten wir dann alle so, als sei nichts geschehen.
Sie waren Anarchisten. Ich habe ihre Art von Aufruhr nie verstanden. Jetzt hat sich das Engagement gelegt. Sie sind Sozialdemokraten geworden. Das Einzige, was Kristin und Caspar von der Masse unterscheidet, ist eine seltsame Eigenheit, die sie aus der WG-Zeit herübergerettet haben: Sie haben keinen Fernseher. Sie wollen keinen. Aus Prinzip. Da kann man sie nur bewundern.
» Bjørn! «, ruft Kristin überschwänglich und zieht mich in den Flur, wobei sie mich von Kopf bis Fuß mustert. » Du has t d ich ja kein bisschen verändert! « Wir umarmen einander. Lange. Ich finde, dass auch Kristin sich kaum verändert hat. Und dann erinnere ich mich plötzlich, warum ich in Kristin verliebt gewesen bin.
Caspar hat auf dem Wohnzimmertisch Kopien der
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