Egeland, Tom
das Zifferblatt beobachten.
Im Frühling dieses Jahres suchte ich Dr. Wang noch einmal auf. Ich brauchte Hilfe, um mit ein paar Erinnerungen klarzukommen, die mir plötzlich im Schutz der Nacht gekommen waren. Die Umstände rund um Papas Tod. All die kleinen Absonderlichkeiten, die ich als Kind nicht richtig verstanden hatte. Jede noch so kleine Episode ist ein Faden in einem wirren Gewebe. Der Arzt war froh darüber, dass ich endlich erzählte, was in dem Sommer von Papas Tod geschehen war. Etwas in mir musste sich gelöst haben.
Er sagte, er verstehe jetzt mehr. Wie schön für Sie, sagte ich.
Es war Dr. Wang, der mir geraten hatte, meine Erinnerungen niederzuschreiben. Auf diese Art und Weise würde alles plastischer, sagte er. Sie sehen dann klarer, als wenn Sie in der Zeit zurückreisen und alles noch einmal erleben.
Na dann, sagte ich. Und begann zu schreiben.
7
ALS ICH KIND WAR und mich einige Bleichgesicht nannten, suchte ich immer bei Mama Zuflucht.
Ich parke Bolla auf den rostroten Platten in der Einfahrt. Warmes Licht und die Klänge von Prokofiews Romeo und Julia strömen durch das geöffnete Wohnzimmerfenster. Ich erblicke Mama, als sie aus dem Fenster schaut. Eine Fee im Lichterglanz.
Es wäre ungerecht von mir zu behaupten, Mama habe versucht, mich zu vergessen oder zu verdrängen. Aber ihre Liebe ist einer fernen, umsichtigen Sorge gewichen. Sie bringt mich immer dazu, mich wie einen lieben Verwandten bei einem Ferienaufenthalt in der alten Heimat zu fühlen.
Sie steht in der Tür, als ich die Treppe emporsteige. » Du kommst spät «, sagt sie. Ihre Stimme hat den runden Klang, der verrät, dass es Abend ist und sie den ganzen Tag getrunken hat. Diesen Stand hat sie wohl mit kleinen Drinks gehalten, seitdem der Professor zu Hause ist.
» Ich hatte ein paar Sachen zu ordnen. «
» Du weißt, dass wir immer um halb acht essen! «
» Mama, hat der Professor dir gegenüber jemals von einem Q-Manuskript gesprochen? «
» Trygve! « , korrigiert sie mich freundlich. Ihre Geduld kennt keine Grenzen, wenn es darum geht, uns gegenseitig ein wenig näher zu bringen.
» Q-Manuskript? «, wiederhole ich.
» Ach komm! Was für eine Kuh? «
Wir gehen hinein. Der Professor hat seine Mundwinkel zu einem scheinheiligen Lächeln auseinander gezogen, mit dem er seit zwanzig Jahren versucht, meine Gunst als mein neuer Papa, Mamas treuer Freund und ergebener Liebhaber zu gewinnen.
» Bjørn! «, sagt er. Kalt, abweisend. Während er noch immer lächelt, um Mama eine Freude zu machen.
Ich selbst sage nichts.
»Wo ist er?«, fragte er durch zusammengebissene Zähne .
»Meine Männer«, sagt Mama mit schriller Stimme, »habt ihr Hunger?«
Wir fahren im Wohnzimmer fort; eine Oase mit dicken Teppichen, weichen Sofas, Textiltapeten, Vitrinen und Kronleuchtern, die im Sommerwind munter schwanken.
In der Mitte des Raums liegt ein Perserteppich, auf den man nicht treten darf. Die Flügeltüren zwischen Wohn-und Esszimmer stehen offen. Auf dem Esstisch flackern Kerzen in mehrarmigen Leuchtern und auf drei handbemalten Porzellantellern. Aus der Küche höre ich den Hund, der sich mühsam erhebt, er ist halb taub, hat schließlich aber doch mitbekommen, dass Fremde auf den Hof gekommen sind. Sein Schwanz trommelt gegen den Küchenschrank.
» Wo ist Steffen? «, frage ich.
» Im Kino «, sagt Mama. » Mit einem Mädchen. Ein wirklich nettes Mädchen. « Sie kichert. » Frag mich nicht, wer sie ist. Er hat jeden Monat eine neue. « Sie sagt das kokett, stolz, als wolle sie unterstreichen, das sei eine Freude, die ich ihr nie gemacht habe. Im Gegenzug habe ich aber auch nie Aids oder irgendwelche schwärenden Geschlechtskrankheiten bekommen.
Ich hatte noch nie ein herzliches Verhältnis zu meinem Halbbruder. Er ist ein Fremder. Wie sein Vater hat er meine Mutter mit Beschlag belegt. Und mich nach draußen auf die Treppe verwiesen, in die Kälte.
Der Professor und ich setzen uns. Wir haben hier im Haus unsere Stammplätze. Er und Mama jeweils am Kopf des Tisches, ich in der Mitte der langen Seite. Ein Ritual.
Als Mama die Küchentür öffnet und zwischen ihren Töpfen verschwindet, schlappt der Vorstehhund des Professors herein. Er ist vierzehn Jahre alt und heißt Breuer. Oder Brøyer. Ich habe mir niemals die Mühe gemacht, danach zu fragen. Hunde bekommen die dümmsten Namen. Er sieht mich an und wedelt mit dem Schwanz. Dann bleibt der Schwanz plötzlich stehen. Der lernt mich niemals kennen. Oder es ist
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