Egeland, Tom
sind schmal und tief. » Das werden Sie noch bereuen «, faucht er.
Die Polizisten schieben sie in Richtung Aufzug. Hart. Obgleich alle drei freiwillig mitkommen.
Dann öffnet sich die Fahrstuhltür.
9
EIN INSEKT, das erkennt, dass es nicht entkommen kann, legt die Beine zusammen und stellt sich tot. Manchmal verspüre ich das gleiche Bedürfnis.
Furcht und Pech haben einen lähmenden Effekt. Bei mir kommt es in diesem Augenblick zu einer neuen, unerwarteten Reaktion: Ich werde wütend. Ich bin nicht mehr bereit, das alles hinzunehmen. Wie ein Insekt vermag ich mich nur für kurze Zeit tot zu stellen. Danach muss ich in den Schutz eines Grashalms krabbeln und Kräfte und Mut sammeln.
Ich sehe Roger so lange an, dass ihm unwohl wird. » Kann ich bei dir übernachten? «, frage ich. Ich bin weder mutig noch dummdreist. Sie werden zurückkommen. Bald werden auch sie ungeduldig und gereizt sein.
» Klar. «
» Ich fahre für eine Weile ins Ausland. Morgen früh. «
Roger ist nicht gerade neugierig. Er fragt nicht weiter.
Wir gehen zu ihm nach unten. Er fragt mich, ob ich müde bin. Das bin ich nicht. Ich bin hellwach. Er legt eine CD ein, Metallica, holt ein paar Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und zündet eine schwarze Kerze an, die vor Paraffin platzt. Gemeinsam trinken wir Bier, hören Metallica und warten auf die Dämmerung.
III
Der Liebhaber
1
ICH BIN EIN MANN, der eher an die Instinkte einer Frau appelliert als an ihre Triebe. Frauen sehen in mir einen verlorenen Sohn.
∗ ∗ ∗
A ls ich einundzwanzig war, bat mich Mama, doch einmal an einem Sonntag zu Besuch zu kommen, um mit mir etwas zu besprechen. Wir waren allein in dem großen Haus. Der Professor und mein Halbbruder waren auf eine Wanderung geschickt worden. Mama hatte Plätzchen gebacken und Tee gekocht. Aus der Küche roch es nach Sauerkraut und Steak. Und nach einem Auflauf für mich. Mama manövrierte mich zum Sofa und platzierte sich selbst mir gegenüber auf einem Sessel. Sie legte die Hände in den Schoß und sah mich an. Ihre rot gesprenkelten Augen verrieten mir, dass sie sich schon den ganzen Morgen Mut angetrunken hatte. Sie war ungewöhnlich schön. Ich dachte, sie wolle mir erzählen, die Ärzte hätten bei ihr eine Geschwulst entdeckt und sie noch ein halbes Jahr zu leben.
Dann fragte mich Mama, ob ich schwul sei.
Sie muss sich schon lange Gedanken darüber gemacht haben. Für Mama war die Tatsache, dass ich Albino bin, unsichtbar. Ich glaube, sie hat nie begriffen, was für ein soziales Handycap es für einen rotäugigen Albino ist, sich mit braun gebrannten Jungs mit blauen Augen und kornblonden Haaren um die Gunst der Mädchen streiten zu müssen.
Ich erinnere mich noch an das erleichterte Lächeln auf dem Gesicht meiner Mutter, als ich ihr versicherte, dass ic h m ich für das weibliche Geschlecht interessiere. Ich unterließ es aber hinzuzufügen, dass dieses sich weniger intensiv für mich interessiert.
Häufig denke ich darüber nach, ob ich es war oder Mama, die unvermittelt die Schiebetür zwischen unseren Leben geschlossen hat. Nach Papas Tod schien sie nichts mehr von mir wissen zu wollen. Ich fühlte mich wie eine schmerzende Wunde, ein Treibanker in ihrem Leben, und fand mich in die Rolle des Ausgestoßenen, des pathetischen Armen, der nicht stören will, wo er nicht erwünscht ist. Manch einer ist sicher der Meinung, dass ich ungerecht zu ihr war. Habe ich jemals –auch nur ein einziges Mal –versucht, mich in Mamas Lage zu versetzen? Habe ich jemals darüber nachgedacht, wie ihr Leben plötzlich zerbrochen ist und warum sie versucht hat, es mit Hilfe von Alkohol, Verstellung und der Liebe zu einem Mann, der genommen hat, was er kriegen konnte, wieder zu flicken?
∗ ∗ ∗
I n London checke ich im Hotel Bayswater ein. Ohne die Aussicht über den Hyde Park hätte dieses Hotel ebenso gut in der Münchner Leopoldstraße oder auf dem Sunset Boulevard in Los Angeles liegen können. Ich habe eine gewisse Sympathie für Konzertpianisten und Rockstars, die nach vier Monaten Tournee nicht mehr wissen, in welchem Land sie sich befinden.
Der Raum ist schmal, und an den Wänden hängen charakterlose Reproduktionen. Ein Bett, ein Stuhl, ein Tischchen mit Telefon, ein paar Informationsbroschüren und leere Briefbögen. Minibar. Fernseher. Ein Schrank mit leeren Kleiderbügeln . Ein Bad mit weißen Fliesen und kleinen, einzeln verpackten Seifenstückchen, die übertrieben rein duften. Ich war hier noch nie,
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