Egeland, Tom
«
» Das habt ihr doch auch. Die wurde um 970 angelegt. «
» Aber wir haben doch nach dem Oktogon gesucht? «
»Ja.«
» Und Llyleworth wusste, dass darin verborgen ein Schrein lag? «
» Vermutlich. «
» Wussten Sie, dass der Schrein aus Gold ist? «
Seine Reaktion verrät mir, dass er es nicht wusste.
» Was wissen Sie über Rennes-le-Château? «, frage ich.
Er wirkt ehrlich überrascht. » Nicht sehr viel. Ein französisches Bergdorf, in dem ein angeblicher Fund von Pergamenten zu einem gewissen pseudowissenschaftlichen Interesse geführt hat. «
» Dann wissen Sie also nichts über einen historischen Schatz? «
Sein Gesichtsausdruck zeigt mehr und mehr Verwirrung.
» Einen Schatz? Sie meinen Rennes-le-Château? Oder das Kloster Værne? «
» Weiß Llyleworth, was sich im Schrein befindet? «
» Sie fragen und fragen. Aber Sie müssen verstehen, dass ich noch ein viel kleineres Steinchen bin als die anderen. Ich bin das blaue Steinchen ganz oben rechts im Puzzle. Das nur dazu da ist, den Himmel zu komplettieren. « Leise lachend beugt er sich über den Schreibtisch. » Bjørn «, sagt er leise, und dann klingelt das Telefon. Mit einem kurzen › Ja ‹ nimmt er den Hörer ab. Den Rest des Gesprächs führt er auf Englisch. Nein, er wisse es nicht. Dann sagt er mehrmals yes, und aus seinem Blick erahne ich, dass eine dieser Zustimmungen die Antwort auf die Frage nach meiner Anwesenheit ist. Er legt auf. Ich stehe auf.
» Sie wollen schon gehen? «, fragt er.
» Wenn ich das richtig verstanden habe, erwarten Sie Gäste «, sage ich.
Er geht um den Schreibtisch herum und legt mir die Han d a uf die Schulter. » Vertrauen Sie mir. Geben Sie den Schrein heraus. Das sind keine Verbrecher. Sie gehören zu den Guten. Sie haben ihre Gründe. Glauben Sie mir. Die haben ihre Gründe. Und das ist wirklich kein Spiel für Leute wie uns. «
» Leute wie uns? «
» Leute wie uns, Bjørn. «
Er begleitet mich bis in die Empfangshalle, wobei er die ganze Zeit über die Hand auf meiner Schulter liegen lässt. Vielleicht erwägt er, mich mit Gewalt zurückzuhalten. Doch als ich seine Hand wegschiebe, leistet er keine Gegenwehr. Er steht in der Türöffnung und sieht mir nach, während ich eilig das Weite suche.
Hinter einer Gardine an einem Fenster in der ersten Etage – ich bin überzeugt, es ist ihr Schlafzimmer –winkt seine Frau. Auf dem Weg zu Bolla fantasiere ich, dass sie mir nicht bloß zu-, sondern mich zu sich winkt. Hin und wieder scheine ich noch diese Wahrnehmungsstörungen zu haben.
6
EIN WEISSER RAUM, drei mal vier Meter groß. Ein Bett. Ein Tisch. Ein Schrank. Ein Fenster. Eine Tür. Sechs Monate war das meine Welt.
Während der ersten Zeit in der Klinik habe ich mich nicht aus dem Zimmer getraut. Lange saß ich mit schaukelndem Oberkörper auf dem Bett oder auf dem Boden, das Gesicht zwischen den Beinen, die Arme über dem Kopf. Ertrug die Blicke der Pfleger und Schwestern nicht, wenn sie mit ihren Pillen in den durchsichtigen Plastikbecherchen kamen. Wenn sie mir über die Haare strichen, faltete ich mich zusammen wie eine Seeanemone.
Jeden Tag brachten sie mich zur gleichen Zeit zu Dr. Wang. Er saß auf einem Stuhl und machte kluge Worte. Ich habe ihn nie angesehen. Es vergingen vier Wochen, bis ich aufschaute und ihm in die Augen blickte. Trotzdem blieb er sitzen und redete weiter. Ich hörte ihm zu.
Nach fünf Wochen habe ich ihn unterbrochen. Was fehlt mir?, fragte ich ihn.
Man muss den Weg zurück zu seiner Kindheit finden, pflegte er zu sagen.
Sehr originell.
In der Kindheit wird man als Mensch geformt, sagte er. Da sucht sich das Gefühlsleben einen Platz im Hirn.
Ich war ein glückliches Kind, antwortete ich.
Immer?, fragte Dr. Wang.
Ich erzählte ihm, dass ich wie ein verwöhnter Prinz in einem Palast aus Purpur und Seide aufwuchs.
Und es geschah nie etwas Böses?, fragte er.
Nie, log ich.
Hat man Sie geschlagen?, fragte er.
Hat man Sie missbraucht?
Wurden Sie sexuell ausgenutzt?
Sind Sie in dunklen Zimmern eingesperrt worden?
Hat man Ihnen schlimme Sachen gesagt?
Hat man Sie gequält?
Bla, bla, bla …
∗ ∗ ∗
D raußen, auf dem Flur vor seinem Büro, hing eine Uhr. Die Tyrannei der Zeit. Alle Uhren dieser Welt ketten sich zu einer tickenden, kollektiven Einigkeit zusammen. Aber diese Uhr war anders. Es war eine, die über Radiowellen von einer Atomuhr in Hamburg gesteuert wurde. Stundenlang konnte ich die schwebende Flucht des Sekundenzeigers über
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