Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
einziehst? Und warum ich dir so gern den Schlüssel brachte, als ich ihn von Woodkin bekommen hatte? Du hast hoffentlich nicht vergessen, dass du nach der ersten Einladung zum Abendessen bei Gorge gesagt hast, du seist mir was schuldig.«
Es gab noch viel, was Loeser fragen wollte, aber alles, was er in seiner Verblüffung herausbrachte, war: »Und warum bist du noch immer nackt?«
»Ist doch ein warmer Abend für Dezember. Jetzt muss ich aber wirklich diese Nagelschere finden, alter Freund – hast du vielleicht eine Ahnung, wo sie ist?«
»Ich kann dir versprechen, für Delia Spragues Seelenfrieden ist es viel besser, wenn ihr das nicht wisst. Hol deine Sachen.«
Der Kollege des Stinktiers sammelte seiner Kleider auf, ging zum Anziehen ins Bad und kam wieder heraus. »Weißt du, eigentlich habe ich ja einen Höllendurst auf ein Kännchen Tee. Glaubst du, bevor ich gehe, könnte ich vielleicht …?«
»Raus«, sagte Loeser.
»Ach, übrigens, hast du das mit Brecht gehört?«
»Was ist mit Brecht?«
»Er kommt nach Los Angeles. Im Augenblick ist er in Finnland, aber er will ein Visum beantragen.«
»Bitte geh jetzt, bevor du mir noch mehr erzählst, das mich in den Pazifik treibt.«
Da ihn sonst nur der Briefträger regelmäßig besuchte, fiel Loeser beim Verklingen von Rackenhams Schritten sofort ein, dass er heute noch nicht in den Briefkasten gesehen hatte. Er ging hinaus und fand dort einen Brief mit Berliner Poststempel. Als er die Handschrift erkannte, entfuhr ihm eine dampfende Wolke der Erleichterung.
Loeser hatte nie auf Blumsteins Brief über den Zwischenfall in der Straßenbahn aus dem Jahr 1938 geantwortet. Aber sein Mentor von einst hatte hartnäckig weiter versucht, ihre Freundschaft zu kitten, und alle drei oder vier Wochen geschrieben. Jedes Mal war Loeser ungefähr bis zum zweiten Absatz gekommen, und wenn Blumstein dann von den Zuständen in Berlin anfing, hatte er aufgehört und den Brief weggeworfen. Loeser fand, er sei nicht 6000 Meilen vom Allientheater weggezogen, um sich anzuhören, wie sein bedeutungsloser ehemaliger Mentor weitschweifig um sein Mitleid bettelte. Sein Widerwillen war immer mehr gewachsen. Jeder Briefumschlag in Elfenbeinweiß war ein zerzauster kleiner Emigrant aus Blumsteins Leben, den man an der Grenze nicht zurückweisen konnte, weil er all die richtigen Stempel von all den richtigen Ämtern vorwies – wie ein lästiges Geisterkondom, ein toter Brief aus Frankreich, verklebt mit der warmen Soße von allem, was Loeser je hätte tun sollen und doch nicht getan hatte –, in seinem Briefkasten so unerwünscht wie drinnen all die seltsamen Pfänder des Hausgespenstes, an das er einst geglaubt hatte. Und während die Monate ins Land gingen, wurde es für ihn immer schwieriger, sich einzureden, es sei nur eine simple Mischung aus Langeweile und Überdruss, die ihm beim Anblick seiner Adresse in Blumsteins Handschrift das Gefühl gab, mit dem Kopf in einer Bärenfalle zu stecken, und nicht zum Beispiel Schuld. Denn zuzugeben, dass Blumsteins Briefe Schuldgefühle in ihm auslösten oder dass es in seinem Leben überhaupt einen Grund für Schuldgefühle geben könnte, würde eine innerliche Umstellung von einem Ausmaß erfordern wie jene, die er kürzlich mit Adele erlebt hatte – nur nicht so befreiend. Und niemand konnte ihn zwingen, das zuzugeben, also tat er es auch nicht.
Dann blieben die Briefe aus.
Als Blumstein ihm noch Briefe schrieb, wollte Loeser, dass er damit aufhörte. Aber als Blumstein ihm keine Briefe mehr schrieb, wollte Loeser, dass er wieder anfing – und zwar zehn Mal so dringend. Als Blumstein ihm noch Briefe schrieb, musste Loeser sich zwingen, nicht an Blumstein zu denken. Aber als Blumstein ihm keine Briefe mehr schrieb, musste er sich immer noch zwingen, nicht an Blumstein zu denken – und zwar zehn Mal so sehr. Nicht selten träumte er von neuen Briefen, doch bis heute war kein einziger gekommen.
Loeser klappte den Briefkasten zu. Er ging wieder hinein. Er setzte sich und riss den Umschlag auf. Er sah, dass er leer war.
Und aus irgendeinem Grund musste er beim Anblick des leeren Briefumschlags an den toten Ziesel in der verschlossenen Kammer denken, und das verwesende Stinktier ließ ihn zweimal husten, und seine Augen füllten sich mit Tränen, und da war er sich ganz sicher, dass Blumstein sterben würde, bevor er noch einen Brief schreiben konnte.
Das war natürlich unlogisch. Es konnte alle möglichen Gründe dafür geben, dass der
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