Ehemänner
wenigstens etwas davon hier«, bat er und kam mit der Schere näher.
Ana willigte ein. Sie streckte die Arme über den Kopf aus und schob ihre Scham vor. Unmittelbar am Scheitelpunkt jener Pracht schnitt er eine Locke ab. Dann huschte ein Engel vorbei und breitete über sie das längste Schweigen ihres Lebens. Eine ganze Weile rührten sie sich nicht. Er umklammerte die Schere und die Haarlocke mit der Faust, sie schloss die Augen, um sich, bevor sie ihn in einer fremden Welt verlor, diesen Augenblick auf ewig im Zentrum all ihrer Erinnerungen einzuprägen. Als wollte sie sich von einem Baum losreißen, sprang sie anschließend auf und unter die Dusche, in die Kleider, ins Auto und fuhr heim. Ihre Lippen waren zu einem Lächeln geöffnet, so dass sie den Mund nicht mehr zubekam. Lächelnd lauschte sie den pubertären Geschichten ihrer Ältesten, und lächelnd richtete sie ihren Blick während des Abendessens auf ihren Mann, der seinen Blick auf den Fernseher gerichtet hatte.
»Was birgt dieses Lächeln?«, fragte der Mann.
»Ein Spiel«, sagte sie, bevor sie einschlief, ohne ihr Lächeln abzulegen, das sie über Nacht, am folgenden Morgen, den ganzen Tag über und bis zum übernächsten Tag beibehielt. Erst dann fing sie an, sich Sorgen zu machen, weil Icaza sich in all den Stunden nicht gemeldet hatte. Gleich nach dem Aufwachen schaltete sie ihr Handy ein, doch bis zwei Uhr bekam sie nur belanglose Anrufe und Nachrichten. Von ihm keine Spur. Sie sperrte den Laden ab und fuhr los, um ihre Kinder von der Schule abzuholen. Die drei kamen in Begleitung von zwei Freunden, und alle fünf verbreiteten einen Heidenlärm, als sie in den Van stiegen. Ihr Handy klingelte.
»Wo treibst du dich herum?«, fragte eine Stimme, die schwer war wie Stein. Sie wusste sofort, was mit dem Besitzer dieser Stimme los war. Er musste sich seit mindestens vierundzwanzig Stunden ununterbrochen zugeschüttet haben. Er war voll bis an die Haarspitzen.
»Warum tust du das?«, fragte sie.
»Aus dem gleichen Grund, aus dem du woanders lebst.«
»Mama, wollen wir noch lange hier rumstehen?«, fragte die jüngste Tochter, die ihr heiteres Gemüt von der Mutter geerbt hatte.
»Noch ein Weilchen«, sagte Ana.
»Nicht ein Weilchen«, unterbrach sie Juan. »Ich mache so lange weiter, bis ich tot bin. Ich habe es satt, immer nur allein zu sein, ohne Frau ins Kino zu gehen, so dass man sogar schon tuschelt, ich sei mit einem Mann liiert, was auch erkläre, warum man seit meiner Scheidung nichts mehr über mein Sexualleben höre, obwohl das, wenn man meiner Frau Glauben schenken möchte, schon vorher nicht anders war.«
Ana ließ den Motor an und fuhr langsam los.
»Können wir kurz beim Videoclub vorbeifahren?«, fragte der mittlere Sohn.
»Ja, können wir«, sagte Ana.
»Gar nichts können wir«, tönte es aus dem Telefon.
»Wir könnten uns lieben«, sagte Ana.
»Ja, im Geheimen, ich habe diese Heimlichtuerei satt, hörst du, Ana, habe es satt, habe es satt.«
»Das merke ich«, sagte Ana.
»Halt mal eben hier an, Mama, hier«, befahl ihr Ältester, während er die Wagentür öffnete.
»Vorsicht«, sagte Ana, als sie ihn aus dem Wagen springen sah.
»Vorsicht, warum? Vorsicht, dass sie nichts merken, Vorsicht, dass sie uns nicht anstarren, Vorsicht, es ist schon spät. Ich habe es satt«, tönte Juans Stimme so laut, dass das Handy bebte.
»Ich merke schon, dass du es satt hast. Hör auf, dich volllaufen zu lassen, ich bin gleich da«, sagte Ana, ohne dass sie ihn groß zu fragen brauchte, wo er sich befand.
»Einen Scheiß wirst du tun, ich kann doch deine Gören hören; du treibst dich überall herum, nur nicht bei mir.«
»Ich sage doch, ich bin gleich da.«
Sie legte auf und rief bei ihrer Schwester an. Schwestern sind zum Anrufen da.
»Du steckst mal wieder im Schlamassel«, sagte die Schwester. »Dabei bin ich eigentlich zu dir gekommen, um dich zu sehen.«
»Bei mir zu Hause gibt es nichts Essbares.«
»Das sehe ich.«
»Ich wollte Pizza für alle bestellen.«
Offenbar hielt ihre Schwester das für eine fantastische Idee. Sie lebte allein, und bei ihr lief es weniger gut. Anders als Ana war sie die Alleinstehende und ihr Freund verheiratet. »Wer weiß schon, was mit uns los ist«, pflegte sie zu sagen. »Laut Aussage der Therapeutin neigen wir zu gestörten Beziehungen, aber was wissen schon die Therapeuten, nicht mehr als früher die Priester. Nämlich nichts. Manchmal hören sie einem wenigstens zu. Gestört sind wir
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