Ehen in Philippsburg
Tugend, die nur dem Mangel an Gelegenheit ihre Existenz verdankt, schmähen will, dem muß gesagt werden, daß es auf der Erde schon genug ist, wenn überhaupt Sünde unterbleibt, nach den Gründen soll man da gar nicht mehr lange fragen.
Der Mensch tut nun einmal Böses, solang er dazu Gelegenheit hat, und hat er keine, so muß er wenigstens die Genugtuung haben, sich seiner Tugend rühmen zu dürfen. Tugend ist also nichts anderes als Mangel an Gelegenheit, dachte Hans und empfand tief, wie sehr diese Einsicht ihn selbst betraf. Das sind meine Einsichten, dachte er, meine Erfahrungen mit mir selbst und mit der Traubergstraße. Bestimmt gibt es viel bessere Menschen: droben in den Villenvierteln vielleicht. War nicht Frau Volkmann ein Beispiel für höhere menschliche Lebensart? Sie sprach immer nur von Kunst und von Künstlern, besuchte Ausstellungen und Museen und Konzerte, ereiferte sich für Fragen des Stils und des Geistes, und selbst wenn sie weitausgeschnittene Pullover trug, so konnte das bei ihr doch gewiß kein Bekenntnis zu bloßer Lust sein, wahrscheinlich war das eine Demonstration für irgendeine höhere Unabhängigkeit vom Fleisch und seinen Versuchungen, eine Demonstration, die er natürlich noch nicht zu würdigen wußte, weil er sie noch nicht verstand, weil er nur das Fleisch sah und nicht die Freiheit oder sonstwas, was damit gemeint war. Und wenn Frau Volkmann ihren Mann betrog – war Betrug hier überhaupt das richtige Wort? Sicher wußte ihr Mann davon, sicher war das nur Annes zurückgebliebene Ausdrucksweise –, so betrog, oder besser, so ersetzte sie ihn ja nicht durch gemeine Menschen, sondern durch Männer von erlesener Beschäftigung, denen es wiederum nicht auf bloßes Amüsement ankommen konnte, sondern auf Erzeugung höherer, ihm noch nicht zugänglicher Stimmungen. Wahrscheinlich – so beschloß er, traurig geworden, seine Überlegungen aus Rausch und Schlaflosigkeit –, wahrscheinlich würde er, vom Lande gebürtig und mancher Gier verfallen, die feineren Regungen der städtischen Gesellschaft nie ganz begreifen, geschweige denn, daß es ihm je gelingen könnte, selbst solcher Regungen teilhaftig zu werden.
Ins Hochhaus mochte er die nächsten Tage nicht gehen, obwohl es ihn allmählich doch interessiert hätte, ob der große Chefredakteur ihn überhaupt noch zu empfangen gedachte. Aber lieber hätte er, um in Büsgens Büro zu gelangen, das vierzehnte Stockwerk in der prallen Mittagshitze über die Fassade erklommen, als jene Türe zu öffnen, Marga und Gaby gegenüberzutreten, ihnen die Hand zu geben und mit gleichgültiger Miene nach dem Chefredakteur zu fragen. Die Mädchen hatten sicher über ihn gelacht, hatten es wahrscheinlich sogar Fräulein Birker erzählt, wenn nicht gleich der ganzen Weltschau-Redaktion. Geld hatte er noch für acht Tage.
In planloser Verdrossenheit wanderte er ins Villenviertel hinauf. Frau Volkmann streifte gerade in Floridakleidung, mit ihren Pudeln spielend, durch den Park. Er hätte gerne weggeschaut, um ihr Gelegenheit zu geben, ein bißchen was umzutun, aber sie fühlte sich offensichtlich voll bekleidet und stürzte munter auf ihn zu, grüßte ihn wie einen langjährigen Freund und rief überlaut nach Anne. Die tauchte langsam, das Strickzeug in den Händen, auf ihrem Balkon auf, legte das Strickzeug sogar weg – was sie bloß mitten im Hochsommer zu stricken hatte! –, winkte herunter und bat ihn hinaufzukommen. Aber so leicht ließ sich die Mutter den jungen Mann nicht entreißen. Anne möge sich gefälligst herunter bemühen, es sei auch am kühlsten unter den Bäumen.
»Papa wird sich freuen, daß du da bist«, sagte Anne, »er hat schon zweimal nach dir gefragt!«
»Nach mir«, sagte Hans und errötete. »Ja, ich glaub’, er hat was vor mit dir«, sagte Anne. »Das sagt er uns nicht«, sagte Frau Volkmann und lächelte großzügig; das hieß, daß sie ihrem Gatten die kleine Geheimnistuerei nicht übelnehme. Darum ergänzte sie auch: »Es muß etwas Geschäftliches sein.« Also etwas, über das in ihrer Gegenwart auch besser nicht gesprochen wurde. Um Gottes willen, Geschäftliches, Ingenieurskram und Kaufmannswurst! Hans sah, wie sie schon litt, wenn sie nur an diese tödlichen Sachlichkeiten dachte. Der Roboter und die Hindin!
Als Herr Volkmann dann endlich kam, war Hans sehr neugierig auf das, was man mit ihm vorhatte. Herr Volkmann schien übrigens keine Notiz davon zu nehmen, daß die Luft weiß war vor Hitze und
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