Ehen in Philippsburg
Gedanken, Nachtgedanken, gegen die nur noch der Morgen helfen kann, da doch Menschen und Schlaf ihn verlassen hatten. Vielleicht wurde in einem Laboratorium noch ein Frosch gequält von weißleinenen Wissenschaftlern, sicher starb jemand in dieser Nacht, sicher wurde geliebt während er dachte; sein Anteil an allem war klein. Er kniete am Schlüsselloch zu allen Türen, und wenn kein Schlüssel steckte, war es für ihn schon ein Triumph. Hans warf die Decke von sich. Über ihm klopften noch Schritte. Herr Klaff. So spät noch wach. Hin und her und wieder hin. Hans verstand, daß dieser Zimmerherr, der einem nächtelang durch den Schlaf marschierte, Frau Färber unheimlich war. Dabei trat er nicht mit beiden Füßen gleich stark auf. Eine Prothese vielleicht. Manchmal blieb er stehen, aber man vergaß ihn nicht, man wartete darauf, daß er seinen Gang wieder aufnahm: tag-takk-tag-takk-tag-takk… In einer entfernten Wohnung schrie ein Kind. Die Hitze des Tages hatte sich von den Dächern tief in die Wohnungen gesenkt. Das Kind schrie erbärmlich. Für Hans war das schrille Gequake ein Gruß. Jetzt würde sich aus dem fauligen Ehebett die warmgeschlafene Gattin lösen, um ihr Kleines zu übertölpeln. Aber das Geschrei stieg immer noch an. Und ein zweiter Säugling nahm’s auf, antwortete und gab’s weiter. Ein dritter Schreihals öffnete sich und weckte fort und fort. Hans trat ans Fenster, beugte sich weit hinaus und versuchte zu zählen, aber die Stimmen zu vieler Kinder waren jetzt ineinander verstrickt, und links und rechts flammten erschreckt Lichter auf und warfen die Fenster grell auf die Straße; in den hellen Fensterflächen zählte er die pendelnden Schatten der mürrischbesorgten Mütter. Nun standen also die Erwachsenen der ganzen Straße ratlos in dem immer noch steigenden Kindergeschrei. Polizei oder Ärzte, an wen sollte man sich wenden? Hans beteiligte sich an den Überlegungen aller Familien. Da zog eine Schreistimme hoch über die anderen hinaus, und die folgten wie ein geübter Chor. Aber es war bei Gott kein Gesang. Man hörte nicht gerne zu, hielt den Atem an, dachte, jetzt müsse doch endlich ein Höhepunkt erreicht sein, jetzt, jetzt, aber immer weiter stieg das Geschrei, wer hätte es gewagt, sich einfach die Ohren zuzuhalten, einfach unter der Bettdecke das Ende abzuwarten! War das nicht eine Vorbereitung für etwas, das sich nun gleich ereignen mußte? Aber so sehr auch alle zuhörten, es blieb bei dem bloßen Geschrei, das schließlich doch schwächer wurde. Später hörte es sogar ganz auf. Die Familien fielen in ihre Betten zurück. Ein Licht verlöschte nicht mehr. Vielleicht, dachte Hans, ist eines der Kinder gestorben. »Komm doch«, sagte die Hauswirtschaftslehrerin auf Nummer 24. »Ach was«, sagte der Mann. Hans hatte von Frau Färber längst alles erfahren, was es über die Nachbarn zu erfahren gab. Die Hauswirtschaftslehrerin hatte sich einen Mann gewonnen, der schlief jetzt bei ihr. Heiraten konnte er sie nicht, weil er nicht genug Geld hatte, um seine Frau und seine drei Kinder zu unterhalten und selbst noch einen neuen Hausstand zu gründen. Seine Frau sei im Sanatorium, Tb, eines der Kinder habe auch schon Schatten, hatte Frau Färber gesagt. Er sei Anzeigenwerber für Telephonbücher.
»Hast du was gegen mich«, hörte er die Lehrerin fragen.
»Laß mich doch schlafen«, sagte der Mann.
»Bei der Hitze«, sagte sie.
Er: Ich bin müde.
Sie: O Fred! (nach einer Pause) Du hast Anna besucht.
Er: Nein.
Sie: Sag’ doch die Wahrheit.
Er: Ich habe sie nicht besucht.
Sie: Du hast sie besucht.
Er: Du spinnst.
Sie: Ich habe die Fahrkarte gefunden.
Er: Wo?
Sie: In deiner Brieftasche.
Er: Ich hatte geschäftlich dort zu tun.
Sie: Und du warst nicht im Sanatorium?
Er: Nein.
Sie: Du kannst es mir doch sagen. Sie ist ja deine Frau.
Bitte Fred, sag’ es mir, ich bin dir nicht böse, ich will es nur wissen, ich halte es nicht aus, wenn du mich anlügst, alles, Fred, bloß nicht lügen, bitte sag’ es mir.
Er: Laß mich jetzt schlafen.
Sie: Du hast sie angerufen?
Er: Ja.
Sie: Warum sagst du mir das nicht?
Er: Hab’ ich’s dir nicht gerade gesagt.
Sie: Zu spät. Jetzt kann ich dir nichts mehr glauben.
Er: Bitte, wenn du meinst.
Sie: Fred!
Er: Lina, ich bin müde, ich kann nicht die ganze Nacht Gespräche führen, bitte versteh’ das doch, was kommt denn dabei heraus, wir schreien zur dunklen Zimmerdecke hinauf, sehen uns nicht,
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