Ehen in Philippsburg
getarnte Industriewerbung, na und? Sie kenne ja seine politische Einstellung nicht, sagte Anne. Hans sah sie an. Ach so, politisch. Jaja, das sei etwas anderes. Aber dann sprach er lieber von den nächsten Dingen.
Politische Einstellung! Natürlich war er gegen die Fabrikanten, gegen die reichen Leute, die ein schönes Leben haben, bloß deswegen, weil sie Reichtümer ererbt hatten oder doch die Fähigkeit, Reichtümer zu erwerben. Wer hat denen das Recht verliehen, ihre spezielle Fähigkeit, die Fähigkeit mit Geld umzugehen, zum allgemeinen Lebensgesetz zu erheben, zur unerläßlichen Bedingung menschenwürdigen Daseins? Die hatten einfach alles an sich gerissen und die Tüchtigkeit zur höchsten Tugend gemacht. Wer ihren Bedingungen nicht genügte, konnte draußen herumstehen und zuschauen oder Handlanger werden, Bedienter, dem man betörende Namen verlieh und ein paar Rechte, um ihn fromm zu erhalten. Hans war ein Nörgler, obwohl er wußte, daß man mit Leuten seines Schlages keine Straßenbahnlinie unterhalten konnte, von einem größeren Gemeinwesen gar nicht zu reden, obwohl er wußte, wie unnütz er war, wie überflüssig auf dieser wohlorganisierten Welt, obwohl seine Vorstellungen von einer anderen Verfassung der Gesellschaft kaum mehr ergaben als den einen Satz: »Allen soll es gleich gut gehen.« Er glaubte, daß mit gleichem Recht die Maler oder die Bildhauer ihre Fähigkeiten zum Lebensgesetz hätten machen können, so etwa, daß jeder, der nicht in der Lage war, Farben und Linien und Flächen ausdrucksvoll zu komponieren, keinen Anspruch auf gesellschaftliche Geltung und Wohlstand haben sollte; warum sollten nicht die Musiker oder die Bergsteiger oder die- Mathematiker oder die Schauspieler ihr Metier zum Maßstab erheben dürfen, warum denn bloß die Geldleute? Aber Herr Volkmann war ein gütiger Mensch, und die Volkmannsche Villa war mit Sitzgelegenheiten ausgestattet, die lange Gespräche erlaubten und so die Pflege genußreichen gesellschaftlichen Umfangs förderten. Und wenn drunten in der Stadt Menschen und Straßen und Häuser zu einem klebrigen, unangenehmen Teig zusammenschmolzen vor Hitze, dann ging man hier leichten Fußes durch die kühlen, hallengroßen Räume oder schaukelte sich unterm schattenden Blätterbaldachin frische Luft ins Gesicht und ließ die Hand vom überaus gepflegten Rasen streicheln. Diese Menschen schwitzten weniger, deshalb war es leichter, ihnen die Hand zu reichen. Und war es denn seine Sache, die Villenhügel dem Erdboden, der Asphaltsohle drunten gleichzumachen? Er sah das Lächeln der Wirtschaftsexperten wie Wolken über sich schweben. Das sei 19. Jahrhundert! Revolution, Aufregung, Klassenkampf, Menschheitsaufwallung und starke Herzen! Damals habe es vielleicht noch genügt, einen heißen Kopf und ein starkes Herz zu haben, heute müsse man Bescheid wissen, Fachmann sein, um Arbeitslosigkeit und Inflationen zu verhindern! Er konnte nicht einmal den Börsenbericht in der Zeitung lesen. Zwischen dem Bericht »Die Zahlungsbilanz steht auf solidem Fundament« und seinem Wunsch, daß es allen Menschen gleich gut gehen möge, klaffte ein Abgrund, über den es keine Brücke gab. Also mußte er es denen überlassen, für das Wohl der Menschen zu sorgen, die auf der internationalen Weizenkonferenz mitreden konnten, die über die Konvertierbarkeit einzelner Währungen unterrichtet waren, denen, die das Sozialprodukt errechneten und nach ihrem Gutdünken Genuß und Mühsal zuteilten. Rousseau, käme er heute zur Welt, müßte schon Verfassungsjurist oder Bankfachmann sein, wollte er es wagen, seine Bücher noch einmal zu schreiben; aber wahrscheinlich werden diese Bücher heute nicht mehr geschrieben, weil die Rousseaus dieses Jahrhunderts Fachleute sind. Und ein Fachmann ist ein Mensch, der seiner Phantasie nur Vorstellungen erlaubt, die sein Verstand in Wirklichkeit verwandeln kann. Also wird nur noch das Allermöglichste gedacht. Das Nicht-sofort-Mögliche ist das Unmögliche. Und das Unmögliche zu denken, ist dem Fachmann lächerlich. Natürlich hatte Hans ein schlechtes Gewissen, wenn er auf der Volkmannschen Terrasse saß und dickflüssige kalte Fruchtsäfte trank. Natürlich war ihm die Unterwürfigkeit einer ältlichen Bedienerin peinlich, weil sie ihn an seine Mutter erinnerte oder an eine seiner Tanten. Aber was sollte er tun?
Er, das uneheliche Kind einer Bedienung, das im Dorf aufgewachsene, familienlose Einzelkind! Seine Mutter hatte er von zwei bis
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