Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
geraten ganz auseinander, ich kenn’ das Lina, ich hab’ das schon einmal mitgemacht, verschieb’ es auf morgen, Liebste, ja!
     Was sie antwortete, verstand Hans nicht, dann raschelten Bettzeug und Nachtgewand, Schluchzen dazwischen, und endlich die Geräusche mechanischer Vereinigung. Kurz vor dem Erlöschen noch ein Augenblick wirklicher Bewegung. Dann verstärkten auch die Atemzüge dieser beiden das Atemgetöse, das von überall durch die dünnen Wände drang.
     Wie die Hauswirtschaftslehrerin Lina wohl aussah? Er hatte bis jetzt bloß ihren Motorroller vor dem Haus stehen sehen. Wahrscheinlich trug sie einen flaschengrünen Ledermantel und eine lindgrüne Motorradhaube, wenn sie aus dem Haus trat. Sie mochte zweiunddreißig sein und so begierig, einen Mann für sich zu haben, daß sie immerzu weinerlich bangte, ihn zu verlieren, weshalb sie ihn dann auch um so rascher verlor.
     Hans fühlte sich jetzt wohlig eingebettet in die Schicksale der Familien, die in diesem Backsteinriegel hausten. Er hörte die einzelnen Großväter durch sechs Wohnungen von links und durch sechs Wohnungen von rechts husten. Da jede Wohnung mindestens einen Großvater beherbergte, hörte er andauernd etwa zwölf Großväter husten. Daneben natürlich Gespräche, Zärtlichkeiten, Zwiste und Schreie aus vielen Familien.

    Im Haus Nummer 16 wohne Johanna, rothaarig und reich an Bögen und Mulden; er hatte ihr jedesmal, wenn er sie sah, lange nachgeschaut; natürlich nur, wenn er sicher war, daß ihn niemand beobachtete. Den Kopf drehte Johanna meistens ganz langsam. Das sah aus, als öffnete sich ein großes, schweres Tor. Ihr bis auf die Schultern fallendes Haar bewegte sich dabei nicht im geringsten. Wenn er Johannas Lachen auf der Straße hörte, fuhr er zusammen. Es klang heiser, mehr nach Wolfshusten und Stiefelscharren als nach Mädchenlachen. Frau Färber hatte gesagt, Johanna sei heiser, seit man sie kenne. Am Anfang habe es ihretwegen Streit gegeben. Eine Ehefrau hatte ihren Mann aus Johannas Bett gezogen. Seitdem vermied es Johanna, Kundschaft aus der Straße anzunehmen. Das war ein großer Jammer. Hans träumte manchmal davon, wieder vierzehn Jahre alt zu sein, in Johannas Zimmer zu rennen und sie um ihre Liebe zu bitten. Vielleicht an einem Samstagnachmittag, wenn sie sich gerade fertig zum Ausgehen machte. Sie würde in ihrer seidenen Hauswäsche auf dem Tisch sitzen, mit ihren langen Fingern spielen, als gehörten sie ihr nicht; wenn er sie in seiner vierzehnjährigen Empörung anrufen würde, mußte sie ihn an sich ziehen, ihn im Handumdrehen zufriedenstellen, und er würde ihr ewige Treue schwören, weil sie ihn angenommen hatte, obwohl er einer aus der Straße war. Bezahlen wollte er sie wie ein Erwachsener, das konnte er sich nicht nehmen lassen. In Raten allerdings, denn dreißig Mark hatte er nicht auf einmal flüssig. Sie würde ihm den Schwur abnehmen, daß er keinem in der Straße je etwas von dieser Angelegenheit verrate. Er würde diesen Schwur leisten und ihn halten, so sehr es ihn auch juckte, seinen Altersgenossen endlich einmal aufzutischen, daß er es mit der rauhkehligen und feinhäutigen Johanna gehabt habe. Er würde zumindest in den Formulierungen schwelgen, in denen er das mitteilen könnte, dieses, neben der Erstkommunion, größte Ereignis seines Lebens. Aber hatte Johanna nicht gesagt, sie würde ihn kaltmachen, wenn er auch nur ein Wort ausplauderte, ja, kaltmachen, hatte sie gesagt, und ihre Augen hatten ihm bewiesen, daß sie dazu imstande war… Sicher war es für die Zwölfjährigen, für die Dreizehn- und Vierzehnjährigen eine arge und süße Plage, in einer Straße zu wohnen, in der Johanna ihr Lager aufgeschlagen hatte. Ob sie nicht doch geheime Kundschaft aus der Straße annahm? Ob sie diesen Pakt nicht bloß den Ehefrauen zuliebe eingegangen war, um ihre Ruhe zu haben? Hatte Frau Färber doch erzählt, daß ein paar Frauen sogar froh waren, Johanna in der Straße zu wissen! Jene Frauen, deren Männer, wie Frau Färber sagte, zuviel verlangten. Wahrscheinlich waren die Kinder, die in der Traubergstraße wohnten, in der Schule den Kindern aus anderen Straßen in gewisser Hinsicht überlegen. Wahrscheinlich hörten sie dort Ansichten, über die in der Traubergstraße selbst ein Kind nur noch lachen konnte. Hier würde doch beim Mittagessen von Johanna gesprochen wie anderswo vom Wetter. Besonders am Sonntag, bevor sich Vater und Mutter zurückzogen, fiel immer wieder Johannas Name. Und

Weitere Kostenlose Bücher