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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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schweren Körper und den schwächeren Beinen recht verlassen herum in der äußersten Unwegsamkeit. Hatte natürlich eine viel genauere Kenntnis der Stoffe, die die Erde bilden, hörte die Winde ganz anders als die Genossen, die sich ihnen fliegend anvertrauten, aber er kannte die Weite nicht, die die Hoffnung jedes Lebens ist; den Raum, den zu erfahren uns mit dem unwiderruflichen Verlauf der Zeit versöhnen mag, würde er nie kennenlernen; ihm rasselte die Zeit im engen Gelaß seiner selbst ihre bösen Uhrwerke ab. Er hüpfte um sich herum und hatte deshalb auch sonst mancherlei Sorgen, die seine beflügelten Brüder wahrscheinlich nicht einmal dem Namen nach kannten.

    Hans schreckte hoch. Cécile war aufgestanden. Sie wollte gehen. Mit Claude. Hans erhob sich schon, um sich zu verabschieden, ihm war jetzt alles gleichgültig, sollten sie doch alle gehen, für ihn war die Party vorbei, er dachte an Klaff, aber auch das beruhigte ihn nicht mehr, weil er wußte, wie fern er Klaff war. Er gehörte nicht dorthin. Hierher auch nicht. Und nach Kümmertshausen auch nicht.
     Da spürte er Annes Hand auf seinem Arm. Sie zog ihn auf das Sofa zurück, auf dem er neben ihr gesessen hatte. Jetzt werde es doch erst gemütlich, sagte sie, die älteren Herrschaften seien endlich verschwunden. Claude, der auf den ersten Wink Céciles sofort aufgestanden war, setzte sich auch wieder, als er sah, daß Cécile noch bleiben würde. Obwohl er doch offensichtlich älter war als Cécile, schien sie ihn völlig zu beherrschen. Sie sprachen jetzt von Dieckows letztem Roman, der mit dem Literaturpreis der Stadt Philippsburg ausgezeichnet worden war. Cécile sagte: »Ich habe ihn nicht gelesen.« Dieckow blieb der Mund offenstehen. Cécile sagte: »Ich habe ein schlechtes Gewissen, aber ich kann so selten lesen.« Als Claude ein paar vermittelnde Worte anbringen wollte, sagte sie: »Nein, nein. Vielleicht habe ich zuviel mit mir selbst zu tun.« Das regte den Dichter zu einem längeren Exkurs über die Funktion der Literatur an. Er sprach vom »Sein«. Hans hatte also Zeit, Cécile ausgiebig zu betrachten. Obwohl sie tief in ihrem Sessel saß, reichten ihre Oberschenkel doch bis zur Kante des kleinen Tisches. Wenn sie bloß ein einziges Mal zu ihm hergesehen hätte, er hätte ihr das demütigste Hundegesicht der Welt hingehalten, um ihr verständlich zu machen, wie sehr er sie verehrte. Mehr als Alice Dumont. Auch mehr als Marga? Ja, auch mehr als Marga. Sie war nicht bloß ein Mädchen, das war sie auch, aber sie war auch eine Frau, eine bis in den Himmel reichende Landschaft, ein Gestirn, strahlend und geheimnisvoll und so selbstverständlich wie das Wasser, das man sich im Sommer an einem Dorfbrunnen übers Gesicht laufen läßt. Aber sie schaute ihn nicht an. Wenn sie nicht auf ihre Finger schaute, die lang und dünn waren wie Stricknadeln aus Elfenbein, die sie zu zerbrechlichen Geflechten verschlang und dann langsam wieder löste, dann sah sie Herrn Dieckow an, freundlich, geduldig, mit einer Spur von Bewunderung, die doch nicht ohne Abstand war, ja vielleicht lag sogar Spott darin.
     Wäre die Runde ungestört geblieben, der Dichter wäre die ganze Epoche hindurch nicht müde geworden, seinen gesellschaftskritischen Roman zu interpretieren, angeregt durch immer neue Zuhörer, die sich ringsum setzten, behutsam einen Stuhl oder Sessel heranzogen, um den Dichter nicht zu stören, der ihnen gerade wieder einmal in seiner, wie er sagte, unverblümten Metaphernsprache die Leviten las und ihre Aufmerksamkeit gnädig bemerkte. Er trank dabei so rasch und heftig, wie es vorher Alice Dumont getan hatte. Die weit über das Erträgliche hervortretenden Augen des immer wütender um sich beißenden und so elegant gekleideten Dichters hatten sich gerötet, das gab seinen Ausführungen etwas Wildes, Böses und Bedrohliches; die Stimme wurde immer heiserer. Die Zuhörer kuschelten sich trotz der Sommerhitze in ihren Sesseln und genossen um so mehr die fröstelnden Gänsehäute, die seine flammenden Ausbrüche hervorriefen. Manchmal kam es bis zu offenem Applaus. Darauf verneigte sich der Dichter ganz kurz nach der Seite, auf der der Beifall sich erhoben hatte, dann fuhr er fort, stolz und verächtlich. Schließlich aber wankte Alice Dumont herein, gestützt von Frau Volkmann, oder stützte die Sängerin die Hausherrin? Beide waren offensichtlich in exzessiver Laune. Sie lachten so laut (wären’s nicht sie gewesen, man hätte gesagt: ordinär),

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