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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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kommen, kontrollierte jeden Artikel, jede Reportage, sorgte für Informationsmaterial und dafür, daß Hans die Fabriken kennenlernte; versuchte, ihn zu Diskussionen zu reizen, war ärgerlich, wenn Hans zuwenig widersprach, weil er alle Gegenargumente hören wollte, um sie aus dem Feld räumen zu können. Hans lernte diesen Mann immer mehr bewundern. Eine winzige Präzisionsmaschine war er, mit tausend feinen Rädchen und Gliedern ausgestattet, die von morgens bis abends Einfluß produzierten, Einfluß auf Reißbretter in der Konstruktionsabteilung, Einfluß auf Werbeaktionen, auf Fließbandgeschwindigkeiten, auf Betriebsratswahlen, auf Kommunalpolitik, auf Parteibüros, auf Rundfunk- und Zeitungsredaktionen, Einfluß nach allen Seiten, und immer auf eine leise und kaum merkliche Art. Überall konnte er klar und knapp sagen, worauf es ankam, was zu verbessern war, weil sein Ziel so leicht zu benennen war: der geplante Wohlstand. Beim Wort Freiheit zuckte sein Gesichtchen schmerzlich zusammen. Alle gegen alle, sagte er, das ist Freiheit.
     Hans wollte ihm mit seinen Kritiken gefallen. Er wollte von diesem Mann gelobt werden. Dafür las er auch die langweiligsten Fachbücher und wehrte sich bis tief in die Nach hinein gegen den Schlaf, mit dem seine gesunde Natur auf diese Lektüre reagieren wollte.

    Cécile, Claude, Alice… was waren das für Menschen! Und dieser Herr Dieckow, ein Dichter! Hans dachte an Berthold Klaff, der die Dachstube über ihm bewohnte. Warum war der nicht hier? War das nicht eine Rechtfertigung für sein eigenes Versagen in dieser Villa? Er dachte an die Nacht, in der Klaff zu ihm ins Zimmer gekommen war.
     Es war schon nach Mitternacht gewesen. Frau Färber war heimgekommen und hatte ihrem Mann noch einen Streit geschildert, der unter den Kolleginnen Putzfrauen ausgebrochen war; eine hatte was mit einem Wachtmeister angefangen, die hatten sie an diesem Tag zur Rede gestellt, im Kellergang, zu acht hatten sie sie an die Wand gedrückt Hans hatte die graugesichtigen Weiber vor sich gesehen, die in ihren farblosen Arbeitsmänteln und den wüst um den Kopf geschlungenen Tüchern um die eine herumstanden, die einzige vielleicht, die noch seidene Strümpfe trug und einen Büstenhalter, die einzige Frau wahrscheinlich unter diesen Putzgespenstern, die alle dem notwendigen Stundenlohn zuliebe jeden Tag für sechs Stunden untergingen, verschmolzen mit ihrem Putzgerät, auf den Knien die dämmrigen Treppen herunterrutschten und mit krummen Rücken und blicklosen Augen die endlosen Gänge schrubbten – sie hatten der Sünderin links und rechts eine heruntergehauen, hatten sie angespuckt und ihr gedroht, daß sie ihre Entlassung erwirken würden, wenn sie, die vierzigjährige verheiratete Frau sich nicht schäme, mit einem jungen Wachtmeister was anzufangen, und noch dazu während der Arbeitszeit mit ihm im obersten Stock zu verschwinden. Jawohl, man habe sie beobachtet. Pfui Teufel! Aber der hatten sie’s gegeben! Frau Färber war erregt gewesen. Ihr Mann hatte nach Einzelheiten gefragt. Er hätte gerne gewußt, wie die Frau aussah, wie lange man sie schon beobachtet habe, vor allem, was man alles gesehen habe. Frau Färber gab so genaue Schilderungen, daß auch Hans zuhören mußte. Darauf war es bei Färbers noch zu einer Art ehelicher Aufwallung gekommen. Dann waren Färbers endlich eingeschlafen. Die Stille hatte Zeit zu wachsen. Die wenigen Geräusche, die es jetzt noch gab Atemzüge der Nachbarn, ein Stöhnen, jemand drehte sich im Bett um, daß die Matratzen sangen, ein Auto schwand in der Ferne vorbei und zerrte einen immer höher werdenden Ton hinter sich her, ein Lokomotivenpfiff, der unerlöst hängenblieb, die ungleich hin und her tickenden Schritte, mit denen Herr Klaff über Hans’ Kopf die Nacht durchmaß: diese Geräusche wurden furchtbar in der Stille, die sich immer dichter um die Schläfen des Wachenden schloß, die in seinen Ohren lag wie eine Brandung, die auf einem einzigen Ton stehenbleibt. Je mehr die Stille zunahm, desto verletzlicher wurde sie. Hans konnte sich, wenn er so bis tief in die Nacht hinein gelesen hatte, oft kaum mehr dazu bringen, noch einmal aufzustehen, sich auszuziehen; oft sogar wurde ihm schon das Umblättern seines Buches zur Qual, weil ihm das Rascheln wie ein Schwert in die Ohren fuhr; wenn er gar aufstand und bis zum Schrank ging, hatte er das Gefühl, als öffne sich hinter ihm die Wand, als gehe jemand hinter ihm her, weil seine Schritte so grell

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