Ehen in Philippsburg
verloren. Und Hans dachte noch nach, als sie schon beim Abendbrot saßen. Auf der Terrasse. Das Ehepaar Benrath, Herr und Frau Volkmann, Alice Dumont, Anne und er. Der Dichter Dieckow, der als einziger die Tür noch nicht gefunden hatte, lag in einem Sessel und schimpfte vor sich hin. Frau Volkmann hatte ihm im Vorbeigehen die Stirne geküßt und gesagt: »Der Musensohn leidet an der Welt. So ist’s recht.« Die Volkmannsche Villa lag jetzt wie ausgestorben. Die Stille schmerzte in den Ohren. Gott sei Dank huschten wenigstens noch die Serviermädchen durch die Zimmer und räumten auf. Das grelle Lachen, in das Alice Dumont und Frau Volkmann dann und wann ausbrachen, machte die Stille noch krasser. Manchmal lehnte Alice ihren Kopf an Frau Volkmanns weiße Schulter, sagte ihr Zärtlichkeiten und nannte sie ihre einzige Freundin. Das Gespräch trudelte alle Augenblicke wie ein in der Luft an Atemnot sterbender Vogel in den Abgrund; noch ein paar Flügelschläge, da hielt sich sogar noch eine einzelne Feder, eine Sekunde oder auch zwei, und das Gespräch war wieder erstickt. Das Schweigen dröhnte in allen Ohren. »Dann muß ich doch noch ein paar Geschichten aus meiner Praxis erzählen«, sagte Dr. Benrath plötzlich und schonungslos in die Stille hinein. Da stand Herr Volkmann auf, schmunzelte die Runde an, als wären sie alle seine überaus geliebten Enkel, hob seine zarten Schultern und sagte, wobei sein Gesicht liebenswürdige Wehmut spielte: »Ich würde im Augenblick nichts so gerne über mich ergehen lassen wie gynäkologische Anekdoten, aber ich darf nicht ich kann nicht, mein Tyrann ruft (und er klopfte mit dem Zeigefinger auf die Stelle, wo er das Terminkalenderchen trug), der Sklave hat zu gehorchen. Seien Sie mir nicht böse meine Herrschaften, bemitleiden Sie mich lieber, ich habe heute abend noch mit einem Konstrukteur über neue Chassisformen zu sprechen! Bemitleiden Sie mich vor allem deshalb, weil ich mich auf so was auch noch freue!« Mit einem Achselzucken und einer kleinen Verbeugung drehte er sich um und trippelte weg. Anne zerrte ein Gespräch herbei, sie brachte die Rede auf einzelne Gäste der heutigen Party. Wahrscheinlich hatte ihr die Drohung mit den Geschichten aus der Praxis des Frauenarztes den Mund entsiegelt. Und tatsächlich, die Partygäste, das war das erste Thema seit Beginn des Essens, an dem sich alle, außer Hans natürlich, beteiligten. Allerdings konnte Anne nicht verhindern, daß das Gespräch in jener freimütigen Weise geführt wurde, die sie anscheinend auch nicht liebte. Alice nannte die Frau des Rechtsanwalts Dr. Alwin eine adlige Ziege, die nicht einmal imstande sei, diesen Fettkloß zu befriedigen Dr. Benrath gab dazu einige sachliche Erläuterungen über die geschlechtlichen Möglichkeiten einer mageren Frau einem dickleibigen Mann gegenüber. Die Potenz eines solchen Mannes bestehe vor allem im Willen, nicht impotent zu sein, sagte er, und diesem Sachverhalt müsse die Frau ihre erotische Draperie anpassen. Andererseits sage die körperliche Dürftigkeit einer Frau nichts über ihr Schlafzimmervolumen aus; unter den Frauen sei gerade das körperliche Proletariat oft mit den rosigsten Phantasien gesegnet… Dr. Benrath sagte keinen Satz, der nicht mit verblüffenden Anschauungen operierte. Feinstes lateinisches Fachvokabular flocht er unvermittelt mit brutalstem Gassenjargon zusammen und hüllte so seine Zuhörer in gleichzeitig klinisch und obszön duftende Redewolken. Seine Frau, das dunkeläugige Wesen, sah ihm fast ängstlich auf den Mund, so als fürchtete sie sich vor jedem weiteren Wort. Auch Alice, Frau Volkmann und sogar Anne hörten auf zu essen, wenn er sprach, und drängten ihre Augen zu ihm hin, wobei sie Hals und Kopf in eine sanfte Aufwärtskurve bogen und so einen restlos geöffneten Eindruck machten. Dr. Benrath kannte seine Wirkungen offensichtlich sehr genau. Er blieb ganz ruhig sitzen, geriet nicht in die geringste Eile oder Erregung, im Gegenteil, je gewaltiger und greller er seine Sätze mit Bildern belud, mit Bildern, die einem mit der Vehemenz eines tropischen Sturzbaches durch alle Adern fluteten, desto leiser sprach er, desto unabsichtlicher entließ er die Sätze aus seinem Mund. Dabei hantierte dieser braungebrannte Koloß aus Muskeln und Sehnen äußerst zart und sicher mit dem Fischbesteck und legte die in Weingelee servierte kalte Forelle so rasch und geradezu anmutig auseinander, daß man sich am liebsten sofort hingelegt hätte, um sich
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