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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Staatsanwalt, wisse er, trommelte Dr. Benrath in heftiger Selbstverteidigung weiter, daß die Behörden jeden Arzt kennten, der es mache, man brauche ja eine Kloake in der Stadt, man dulde sie auch, aber nur bis zu dem Augenblick, da irgend jemand Anzeige erstatte, dann greife man zu: der Arzt wird verhaftet, man tut entrüstet, tut, als habe man jeden anderen, nur ihn nicht bei solchen Machenschaften vermutet. Und einen Neider habe jeder, eine ganze Menge sogar, die nur darauf warteten, einen Makel zu finden, einen Anhaltspunkt, ihn anzuklagen, zu ruinieren. Und wo sollte er es denn machen? Hier in der Praxis vielleicht? Ob sie sich darüber im klaren seien, daß es sich dabei um eine regelrechte Operation handle? In die Elisabethenklinik könne er Anne erst recht nicht legen lassen. Die Schwestern seien so hellsichtig und mißtrauisch, sie legten sofort die Instrumente aus der Hand und träten schon vom Operationstisch zurück, wenn er bloß Fäden verlange, um einer Frau die Tuben abzubinden, sie zu sterilisieren, weil sie gerade den dritten Kaiserschnitt hinter sich habe und keine weitere Geburt mehr überleben könne. Mit den Schwestern sei da nicht zu spaßen, die seien stockkatholisch.
     Hans und Anne entschuldigten sich tausendmal dafür, daß sie überhaupt gekommen waren. Hans sah ein, daß Dr. Benrath niemals auch nur einen Versuch machen würde.
     Beim Abschied nannte er ihnen noch den Namen und die Anschrift eines Arztes, zu dem er schon mehrere Patienten geschickt hatte. Seiner absoluten Verschwiegenheit könnten sie übrigens sicher sein.
     Von diesem zweiten Arzt kehrte Anne freudestrahlend zurück. Das ist ein Mensch! Mindestens sechzig, weißhaarig, milde Augen, sogar einen kurzen weißen Kinnbart trägt er, ein richtiger Opa. Das Wartezimmer ist zwar klein und traurig, und aus dem Sprechzimmer hört man jedes Wort, auch jedes Stöhnen. Als sie endlich eintreten darf, räumt der alte Herr gerade eine Schüssel voll Blut weg. Sprechstundenhilfe hat er keine. Er will nicht einmal ihren Namen wissen. Sie muß sich ganz ausziehen, er führt einen Wattebausch mit einer ätzenden Tinktur ein und eine Tablette. Wenn sich etwas verändert, soll sie wiederkommen. Anne geht im Lauf der Wochen neunmal in dieses alte Haus, wartet im traurigen Wartezimmer, bangt, daß eine Bekannte eintrete, ist froh, wenn sie endlich in das Sprechzimmer darf, um wieder mit ein bißchen mehr Hoffnung heimgehen zu können. Jeder Besuch kostet zehn Mark. Jedesmal muß sie sich ganz ausziehen. Aber an ihrem Zustand ändert sich nichts. Hans wird mißtrauisch. Er läßt sich alle Gespräche erzählen, jedes Wort, das der Arzt sagt. Annes Gesicht ist in den letzten Wochen eingefallen. Die Lippen sind ohne Farbe. Ihr dunkles Haar glanzlos und strähnig. Hans muß oft stundenlang auf sie einreden, um sie zu einem weiteren Besuch zu bewegen, denn die Tinkturen werden immer ätzender, die Untersuchungen immer schmerzlicher. Aber Hans läßt nicht nach. Er denkt an seine Mutter. Ein uneheliches Kind! Denn heiraten kann er jetzt nicht. Nicht unter diesen Umständen. Er liebt Anne jetzt mehr als früher. Vielleicht liebt er sie sogar wirklich. Er ist an sie gebunden. Ihr Befinden ist das seine. Er leidet ihre Krämpfe mit und spürt die Sonden, mit denen sie gequält wird. Ist das Liebe? Ja. Nein. Ja… Auf jeden Fall muß zuerst alles wieder in Ordnung sein. Da kommt Anne nach ihrem neunten Besuch zurück. Sie weint. Der alte Arzt, der mildäugige, der richtige Opa, der hat sie heute wieder betastet, ihre Brust befühlt, und dann hat er sich an sie gepreßt; ihre Figur erinnere ihn an Botticelli, ja, er wisse bloß nicht mehr an welches Bild. Hans fiel ein roter Schleier über die Augen. Jetzt liebte er Anne. Sie durfte dieses Haus nicht mehr betreten. Als sie sich von diesem Besuch wieder erholt hatte, schickte er sie noch einmal zu Dr. Benrath. Vielleicht wußte der noch einen Arzt, einen, der es ohne solche Versuche machte. Hans dachte an den Eisenbahnarbeiter, und Anne war ihm näher als je zuvor. Als sie zurückkam, war sie schon bei einem neuen Arzt gewesen. Der sei nun wirklich vertrauenswürdig. Er behandle nur in Gegenwart seiner Frau. Er habe sie gleich untersucht. Aber im vierten Monat könne er nichts mehr machen. Anne saß reglos. Sie schien völlig erschöpft zu sein. Sie hatte es offensichtlich aufgegeben. Hans schwieg vorerst. Er mußte warten. Sie selbst mußte den Entschluß fassen, jenen Arzt doch noch einmal

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