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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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hatte er sogar an der Technischen Hochschule einen Lehrstuhl für Pädagogik und Philosophie erhalten; nie aber war in all der Zeit seine Sorge für den Rundfunk eingeschlafen, als Angehöriger des Rundfunkrates hatte er Einfluß genommen und gebessert, was er zu bessern vermochte.
     Ja, und dann seine Programmkonzeption: der Rundfunk müsse zum Herzen sprechen und dürfe nicht dem Intellekt oder niederen Instinkten dienen! Mancher Verantwortliche sei darüber schon gestolpert. Nicht Instinkt, nicht Intellekt, sondern Herz! Denn der Rundfunk sei die Sonne des Familienlebens in der heutigen Zeit. In den Ameisenwohnungen der Großstadt, in dieser Zeit, in der alles der Zerstreuung oder der Spezialisierung diene, da die Familie den zersetzenden Kräften geschäftstüchtiger Libertinisten ausgesetzt sei, da müsse der Rundfunk Erbauung und Belehrung so verbinden, daß die Familie einen neuen Schwerpunkt erhalte… Hans stenographierte mit klopfenden Schläfen. Dieser Bekanntgabeton öffentlicher Männer erregte ihn immer wieder. Er verschmerzte den Sturz des alten Intendanten jetzt leichter. Hier war ja doch wieder ein Mann, der es gut meinte. Hans bedankte sich und trug seine Notizen ins Büro.
     Anne wartete schon. Sie lächelte wie eine Kranke im Frühling. Dann gräbt sie aus ihrer Handtasche ein paar Schachteln und Fläschchen. Dr. Benrath habe sie untersucht. Sie gehe in den dritten Monat. Ein Fläschchen Partergin, eine Schachtel Chinintabletten und einen Zettel voller Verhaltungsweisen hat sie mitgebracht. Alle halbe Stunde eine Tablette, nach der vierten halben Stunde ein paar Tropfen, gleichzeitig solle sie sich viel bewegen und sehr viel Wein trinken. Die Bäder übrigens so heiß, daß sie es gerade noch erträgt.
     Anne begann ihre Kur sofort und setzte sie eine Woche lang fort. Übelkeit, Erbrechen, Krämpfe, aber kein Resultat. Ein paar Tropfen Blut. Beim nächsten Besuch mußte Hans mit. Es war fünf Uhr nachmittags, Dr. Benrath schickte seine Sprechstundenhilfe heim. »Ich wußte, daß es mit diesen Mitteln wahrscheinlich nicht gelingen würde. Dazu ist es zu spät. Jetzt hilft nur noch ein Eingriff.« Anne und Hans sahen ihn unterwürfig an. Dr. Benrath machte ein tragisches Gesicht. »Ich kann das nicht tun. Ich kann Ihnen eine Orastinspritze geben, aber die bleibt genauso wirkungslos wie die Wehenkur.« Er sprang von seinem Stuhl, ging im Raum auf und ab, umkreiste die Apparate und Möbel und atmete heftig. Hans dachte: er spielt uns was vor.
     Sein Bruder sei Staatsanwalt, er selbst sei im Ärzteausschuß zur Bekämpfung der Abtreibung. Seine Krankenbetten stünden in der Elisabethenklinik, die von katholischen Schwestern betreut würde. Wenn er es Anne zuliebe tue, so sei am nächsten Montag sein Sprechzimmer voll. Hans und Anne wehrten ab. Versicherten ihre Verschwiegenheit. Es sei ja in ihrem eigenen Interesse. Dr. Benrath wischte ihren Schwur mit einer Handbewegung weg. In diesen Sachen gebe es keine Diskretion bei Laien. Anne habe Freundinnen, Hans Freunde, wenn die in Not seien, genau wie jetzt Anne und Hans selbst, was würden sie tun, sie würden zu Anne und Hans kommen, und die mußten ihnen, ihren liebsten Freunden, einen Arzt nennen, »der es macht«. Und dann fülle sich das Sprechzimmer mit Frauen, und wenn er es einmal gemacht habe, könne er es keiner mehr abschlagen, weil er erpreßt werden würde. Der Gewissensdruck wächst, was tut man, man nimmt Morphium, kommt herunter, wird ein Kloakenarzt, endet im Gefängnis oder im Zuchthaus.
     Obwohl Dr. Benrath diese Entwicklung mit allen Anzeichen der Erregung vorgetragen hatte und Anne und Hans dabei angesehen hatte, als seien sie die Zerstörer seiner in voller Blüte befindlichen Ärztekarriere, obwohl diese Geschichte einer ruinierten Ärztekarriere jeden Hilfesuchenden weich machen und zum Mitleid stimmen mußte – wie arm war doch der Arzt dran und wie gering war dagegen das Elend, um dessentwillen man ihn aufgesucht hatte – , Hans glaubte dem Arzt kein Wort. Er war so durchdrungen vom Willen, Annes Zustand zu beenden, daß er einfach nichts hörte und auch nichts gehört hätte, wenn Dr. Benrath noch ergreifender gesprochen hätte – was allerdings nicht mehr möglich war. Wahrscheinlich hatte man schon den Studenten an der Universität diese Morphiumgeschichte als eine Modellgeschichte erzählt und sie zur Abwehr der in Not Befindlichen den jungen Medizinern mit auf den Lebensweg gegeben.
     Von seinem Bruder dem

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