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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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heraus. Noch hatte nichts begonnen. Keiner hatte Platz genommen. Serviermädchen reichten Aperitifs. Wohin sollte er sich zuerst wenden? Zuerst einmal die Bewegungen verlangsamen, sonst rannte er oben in das noch unaufgetaute, halb verlegene Hin- und Hergeschiebe der noch nicht recht raumsicheren Gäste hinein. Auf jeden Fall würde er mit Ilse gleich in den mittleren Salon gehen, in den sogenannten »Grünen«, das Herzstück der Volkmannschen Villa, da würde man am schnellsten erfahren, wie sich die Gnädigste den Verlauf der Verlobungsparty wünschte. Und im »Grünen« war denn auch alles versammelt, was Dr. Alwin wichtig war. Bei der Serie der Begrüßungen, die jetzt ihren Anfang nahm, beobachtete er sehr genau, wer ihm und Ilse mit wirklicher Freude die Hand reichte, wer dabei zerstreut im Raum herumsah oder gar ungeduldig die Hand nur rasch herreichte, als versäume er durch diesen unwichtigen Händedruck einen ihm ungleich wichtigeren Gast, wer dabei besonders aufmerksam und erfreut tat, aber gerade durch sein allzu deutlich gezeigtes Wohlwollen die Alwins zu Leuten minderer Bedeutung stempelte, zu Leuten, denen gegenüber man herablassend herzlich sein muß, weil sie davon zehren.
     Alwin notierte unaufhörlich mit in seinem Gedächtnis und maß jedem sofort Lohn oder Strafe zu, je nachdem, wie Ilse oder ihm selbst die Hand gereicht wurde, wie Augen und Mund des jeweiligen Gegenübers sich benahmen. Die Zeit, die ihn ermächtigen würde, diesen freundlichen oder unfreundlichen Gespenstern – mehr waren sie ja alle zusammen nicht – Lohn und Strafe zuteil werden zu lassen, mußte kommen, sie mußte! Der Empfang, der ihm hier von der Philippsburger Gesellschaft bereitet wurde, bewies es ihm. Und wenn es zehn und fünfzehn Jahre dauern sollte, er würde arbeiten, hinauf, hinauf, Ruhmtreppen hinauf, durch alle Stockwerke des Erfolgs, Glanz, tausendäugige Bewunderung, immer mehr, er war fünfunddreißig, und die hier waren schwerhörig und kurzsichtig genug, nicht zu spüren, daß mitten unter ihnen der Mann stand, der ihnen einmal… sie würden es ja selbst sehen, sie würden seine Musik rechtzeitig zu hören bekommen, er wollte es gnädig machen mit allen, jawohl, bloß keine Raserei, sie können ja nichts dafür, daß sie keine schärferen Augen haben, kein Gespür für den Sitz der Kraft; wie sagt der Dichter, Verwandtes klingt Verwandtem an, so heißt es doch, bitte, hier war eben keiner ihm verwandt, darum ganz ruhig bleiben, Alwin, setz’ dich in die letzte Ecke, sprich nicht viel, laß sie spüren, daß du gar nicht ganz da bist, schau zerstreut auf, wenn dich einer anspricht, so als habe er dich aus wichtigen Gedanken aufgescheucht, hier hast du keinen Freund, hier nicht und nirgendwo sonst, keiner ist dein Freund, Alwin, kein einziger, du bist einsam, du hast nur Ilse, drück’ ihr heimlich die Hand, daß sie das Bündnis spürt, das euch zusammenschließt gegen die ganze Welt, was brauchst du auch einen Freund, das ist Ballast, das hängt sich an dich, hemmt dich, du aber mußt weiter, du hast keine Zeit, Freunde mitzuschleppen, Abende zu vertun, das war einmal, und es war zu nichts nütze, je mehr man sich selbst findet, desto weniger findet man Freunde, die Unterschiede sind zu deutlich geworden, alle sind deine Gegner, das zu wissen genügt, sie geben dir nur, was du ihnen abzwingst, und du wirst sie zur Bewunderung zwingen, und alle ihre Frauen werden Ilse darum beneiden müssen, daß sie deine Frau ist, und alle Männer werden dich beneiden müssen, daß du Ilse zur Frau hast…
     Dr. Alwin tröstete sich im Augenblick damit, daß im »Grünen« und in den Salons nebenan keiner war, der nicht wußte, daß seine Frau eine geborene von Salow war. Kein Schmuck im Raum war so alt wie die Ringe, die Ilses Finger zierten. Und wenn er sich und Ilse inmitten dieser Philippsburger Gesellschaft sah, dann hatte er das Gefühl, als sei er ein Graf von Salow, so sehr waren seine Frau und er all diesen Leuten überlegen. Er hatte zwar, seit er denken konnte, betont, daß er vom Adel nichts halte, daß vererbliche Privilegien nichtswürdig seien und eine Gesellschaft, die solche anerkenne, nur noch des Untergangs wert. So zu denken, war ihm seit eh und je schon von seinem Vater beigebracht worden, der als Turner zeit seines Lebens ein Erzdemokrat gewesen war. Sein Vater hatte es vom Kassenwart eines Vorstadtvereins zum Präsidenten des Landessportverbandes gebracht, aus dem ehrenamtlichen Abrechner war

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