Ehen in Philippsburg
die Tür gegangen, die die Künstler benutzten; Schulter an Schulter mit diesen berühmten Menschen, denen man auf der Straße nachschaute, hatte sie ihre Arbeitsstätte betreten, war freundlich gegrüßt worden und hatte sich herunter gedient von den Garderoben der oberen Ränge, in denen nur Mäntel und Hüte abgegeben wurden, wie sie sie zur Not auch noch selbst hätte kaufen können, herunter bis zur Garderobe für die Logen und die Orchestersessel der Philippsburger Gesellschaft.
Als ihr Mann noch ehrenamtlicher Vereinskassierer gewesen war und als Buchhalter beim Elektrizitätswerk für ein kümmerliches Gehalt gearbeitet hatten da war sie schon eine Stadtberühmtheit geworden durch ihr wunderbares Gedächtnis. Hätten alle Garderobefrauen auch nur ein halb so gutes Gedächtnis besessen wie Alwins Mutter, man hätte die umständliche Methode, numerierte Garderobemarken für jedes Kleidungsstück auszugeben und dieses Kleidungsstück nur gegen diese Marke wieder auszuhändigen, längst entbehren können; dann begänne nicht nach jeder Vorstellung in sämtlichen Theatern der Welt die lästige Sucherei aller Theaterbesucher nach den Garderobemarken, die sie vor der Vorstellung, schon ganz konzentriert auf das Erlebnis des Stückes, das sie jetzt gleich sehen würden, achtlos von der Garderobenfrau in Empfang genommen und irgendwohin gesteckt hatten. Bloß wohin, vielleicht in die Handtasche der Frau, es ist auch zu ärgerlich, und hinter einem warten hundert andere, die auch zu ihren Mänteln wollen, der Eindruck des Stücks, das nachschwingende Erlebnis, alles wird elend erwürgt von dieser Sucherei. Aber Alwins Mutter war berühmt gewesen dafür, daß sie nie die Nummer der Marke brauchte, um ein bestimmtes Kleidungsstück, und sei es auch der gewöhnlichste und unauffälligste Regenmantel, seinem Besitzer aushändigen zu können, wenn er auf die Garderobe zueilte. Als sie fünfzehn Jahre gedient hatte, war das im Philippsburger Kurier erwähnt worden und dabei auch ihr erstaunliches Menschen- und Zahlengedächtnis. Den Artikel, es waren sieben Druckzeilen, hatte Alwin bewahrt, er hatte ihn damals allen seinen Freunden gezeigt, weil von denen kaum einer eine Mutter aufzuweisen hatte, über die etwas in der Zeitung stand. Seine Mutter hatte oft erzählt, wie hohe und höchste Persönlichkeiten ihre Gäste mit ins Theater brachten und mit ihnen dort das Gedächtnis jener Garderobefrau auf die Probe stellten. Einmal hatte der Oberbürgermeister sogar einen Minister mitgebracht, dem Alwins Mutter nach der Vorstellung wie jedem anderen seinen Hut und seinen Mantel reichte, bevor er noch seine Marke hätte zeigen können. Der Minister, der das auf seine Popularität zurückgeführt hatte, wollte es nicht glauben, daß die Garderobenfrau seine Nummer noch im Gedächtnis gehabt haben konnte, obwohl sie ihn für einen beliebigen Gast gehalten hatte. Darauf veranstaltete der Verwaltungsdirektor des Philippsburger Staatstheaters, der ein Mann mit humorigen Einfällen war, eine kleine Demonstration: er bat alle Theaterbesucher, die der kleinen Diskussion wegen, die es unter den Prominenten gegeben hatte, stehengeblieben waren, sie möchten doch ihre Mäntel und Hüte und Shawls untereinander austauschen, so daß keiner mehr in Händen habe, was ihm eigentlich gehöre und was zu ihm passe. Dann bat er Alwins Mutter, sie möchte von jedem abnehmen, was er jetzt an Garderobe biete und ihm dafür eine Nummer geben. Danach sollte Alwins Mutter die Kleidungsstücke an die zurückreichen, denen sie gehörten, was sie dank ihres unbestechlichen Gedächtnisses noch wußte, weil diese Kleidungsstücke an diesem Abend ja schon einmal von ihren wirklichen Besitzern abgegeben und wieder abgeholt worden waren. Und sie bestand die Probe, ohne auch nur einen einzigen Fehlgriff zu tun. Das brachte ihr viel Ruhm und zehn Mark Trinkgeld ein. Fünf Mark von ihrem Chef, dem Verwaltungsdirektor, und fünf Mark von dem jetzt auch erstaunten Minister. Im Philippsburger Kurier war ein Bericht erschienen über diesen Vorfall, aber in diesem Bericht war weniger über Frau Alwin zu lesen gewesen als über die leutselige Art des Ministers und über den mit jovialen Einfällen gesegneten Humor des Verwaltungsdirektors Dr. Mauthusius. Alwins Mutter war sehr stolz auf diese Probe.
In den Wochen und Monaten nach diesem Ereignis wollte sie immer wieder davon erzählen. Keinem Besucher blieb eine ausführliche Schilderung ihrer Gedächtnisprobe
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