Ehen in Philippsburg
Ilse von ihren Verwandten und Vorfahren erzählte. Die Vergangenheit selbst hatte sich ihm auf getan mit einem Spalier von Namen, die ihn durch Ilse hautnah berührten, die ihn eintreten ließen in einen Bereich, den er bis dahin nur vom Buchstaben her gekannt hatte, flach und abstrakt, ohne Raum und Licht, während er jetzt in einen Dom Einzug hielt, gebildet aus Zeit, aus Geschichte, aus Leistung eines Geschlechts. Und dafür hatte er Sinn, er spürte die Ehrfurcht körperlich, als ein Gefühl, in dem sich Kühle und Wärme eigentümlich mischten und ihm Gänsehäute verursachten.
Als ihm Ilses Vater zum ersten Mal einen Kognak eingeschenkt hatte, war es für ihn wie ein Ritterschlag gewesen. Ilses Vater war Generaldirektor in der Automobilindustrie, ein Mann, dem gegenüber man sich kein überflüssiges Wort gestattete, in dessen Gegenwart man unabweisbar den Anspruch verspürte, etwas zu leisten, um seiner würdig zu werden. Daß dieser Mann ihm seine Tochter zur Frau gegeben hatte, war für Alwin ein Beweis dafür, daß er berufen war, weiter, höher zu kommen als je einer aus seiner Familie vor ihm. Das allein wäre indes nicht allzu schwer zu erreichen gewesen, schon mit seiner Promotion war er für seine Verwandten zu einem Gestirn geworden, zu dessen Ruhm und Preis man sich samstags in den Vorgärtchen traf, wobei der am meisten bestaunt wurde, der Alwin zuletzt persönlich gesprochen hatte! Er wußte auch, daß es Vettern und Basen gab, die parallel mit ihm vorwärtsmarschierten, die eifersüchtig herüberschauten nach den Wegmarken, die seine Laufbahn bezeichneten. Deren Väter und Mütter führten alles, was Alwin bis jetzt erreicht hatte, auf plumpe Protektion zurück: sein Vater (ihr Bruder und Schwager also) habe sich hochgestrampelt in den Landessportverband, der sei ein Präsident geworden, wie, das bleibe für immer verborgen, denn in der Schule sei er ein rechter Faulenzer, ein Tunichtgut und ein miserabler Rechner gewesen. Immerhin, der habe es mit seiner Sportlerei geschafft, aus dem Dreck hinauszukommen, und nachdem er einmal mit den hohen Herren verkehrt habe, da habe er eben den Alex gleich nachgezogen, habe ihn studieren lassen und habe die Professoren wissen lassen, daß der Alex rasch vorwärtskommen müsse; das sei für den ersten Sportler des Landes natürlich eine Kleinigkeit gewesen, wo er doch oft und oft in der Zeitung gekommen sei und auf den Bildern immer den höchsten Herren die Hand gegeben habe.
Alex kannte jenen Teil der Verwandtschaft recht gut, der übelwollend sein Leben nach Makeln untersuchte, um eine Entschuldigung für die eigenen Kinder zu haben, denen das Vorwärtskommen nicht so leicht von der Hand ging wie dem Vetter Alwin. Alle anderen aber, die unverheiratet gebliebenen Tanten und Großtanten insbesondere, die unglücklich verheirateten Tanten und die in ärmlichen Verhältnissen lebenden Onkel, die auf dem Rangierbahnhof, in der Kohlenhandlung oder im Zementwerk arbeiteten, die strahlten, wenn sie von ihm sprachen; an die mußte er denken, wenn er seine Wege in die Zukunft absteckte, denn ihre Enttäuschungen waren Wünsche und Erwartungen geworden, die sie seinem Leben mitgegeben hatten. Was ihnen ganz und gar mißlungen war, wollten sie durch ihn gelingen sehen: und wenn er an sie dachte, wurden ihre verhärmten Gesichter zur reinen Kraft, ihre gescheiterten Hoffnungen begleiteten ihn, nährten ihn, so, wie die Verpflegungslager eines vor dem Nordpol, dem Ziel seines Lebens, umgekommenen Forschers dem Nachfolgenden zugute kommen, wie dieser die Aufzeichnungen des Gescheiterten zu seinem Heil benutzen kann, wie der traurige Anblick des auf der Strecke Gebliebenen ihn mit einer schöpferischen Wut erfüllt gegen die Bedingungen, die den Unglücklichen zu Fall brachten, daß er sich schwört, alles daran zu setzen, Sieger zu bleiben, durchzukommen und mit dem eigenen Sieg gleichzeitig alle Niederlagen der anderen zu rächen.
Dabei dachte Alwin mehr als an alle anderen an seine Mutter, die Garderobenfrau im Philippsburger Staatstheater. Als er noch in die Schule ging, war er stolz gewesen darauf, daß seine Mutter die Hüte, Mäntel und Pelze der Theaterbesucher zu bewachen hatte. Er hatte sich dadurch, daß sie allabendlich ins Theater ging, jenem riesigen, noch über die Kirche hinwegragenden Durcheinander von Tempelbauten und Fabrikfassaden, die zusammen das Philippsburger Staatstheater bildeten, geradezu familiär verbunden gefühlt. Sie war immer durch
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