Eheroman (German Edition)
Hause.»
Ava kichert. «Was soll ich denn bei dir zu Hause?»
Und er geht, Blick nach vorn, geht mit seinen Gummistiefeln durch das quietschig nasse Gras, und sie geht nebenher und sagt: «Knutschen?», und kichert noch mehr.
Der Junge bleibt stehen und starrt sie an, mit dunklen Schatten, wo seine Augen hinter den Gläsern sind. «Würdest du?»
Ein Hauch von Atem streift sie.
«Ich knutsch doch keine Kinder. Mann. Wie komisch bist du denn?»
«Du bist doch an mir interessiert. Du gehst mir nach. Wie komisch bist du denn?»
«Ich bin überhaupt nicht an dir interessiert. Ich geh dir auch nicht nach.»
«Dann tschüs», sagt er und stiefelt quietschig weiter.
«Tschüs», sagt Ava und sieht rüber zum Feuer, das Funken in die Nacht sprüht. Wie sie dort stehen und froh sind und lachen. «Wie heißt du denn?», ruft sie dem Jungen hinterher.
«Danilo», sagt er im Gehen und ohne sich umzudrehen.
«Ich bin Ava», ruft sie.
«Ich wei-heiß.»
Sie läuft ihm wieder hinterher. «Wieso? Das stimmt doch gar nicht?»
«Ich wohne hier. Ich weiß, wie du heißt.»
«Echt? Seit wann wohnst du denn hier?»
«Seit September. Ich sehe dich oft, bei Regines Minimarkt … oder am Bus, also an der Straße, wo der Bus hält, und auch im Bus, da hast du vor mir gesessen, und an der Tankstelle bei der Kreuzung hast du Bier gekauft. Und einfach so.»
«Und einfach so. Also, ich hab dich jedenfalls nicht gesehen, noch nie.»
Er zuckt mit den Schultern.
Sie versucht, sich zu erinnern. Aber sie hat ihn wirklich noch nicht gesehen. Sie kann sich jedenfalls nicht erinnern.
«Wenn du mitkommst … kann ich dir was zeigen», sagt er und zappelt mit seinem linken Bein, das in einer Cordhose steckt.
«Ja? Was denn?»
Er greift nach ihrer Hand, sie sieht sich rasch um, ihre Hand hängt kraftlos in seiner, doch es ist inzwischen vollkommen dunkel, und niemand ist unterwegs, alle sind beim Feuer, seine Hand ist warm und trocken, und sie lässt ihn einfach und geht mit.
Was soll er ihr zeigen können? Ihr fällt nichts ein, aber das ist ihr egal. Sie will auch gar nicht denken, sie hat gerade überhaupt keine Entschlossenheit. Sie ist ganz labberig in sich drin. Sie könnte heulen vor lauter innerer Schwäche und gleichzeitig lachen, weil sie an der Hand von dem Kleinen mitläuft wie ein Kalb.
Im Dorf ergießt sich weiß das Licht der Straßenlampen auf ihre Gesichter, Danilos Wangenknochen und seine gebogene Nase treten scharf unter dem Gewöll von Haaren hervor. Im Licht sieht er älter aus und fremder. «Wo hast du denn vorher gewohnt, bevor du hergezogen bist?», fragt Ava Danilo, der schweigend neben ihr hergeht, ihre Hand fest in seiner, als würde sie ihm gehören.
«In Hamburg. Da hat es meiner Mutter nicht gefallen. Sie mag es nicht in der Stadt.»
«Ich habe dich echt noch nie hier gesehen.»
«Du hast nur nicht hingeguckt.»
«Kann sein.»
Die Mädchen und Jungen ihres Alters kennt sie im Umkreis von mehreren Kilometern. Die Jüngeren nicht. Die interessieren sie nicht. Das ist nun mal so.
Vor einem kleinen, alten Haus bleibt Danilo stehen.
«Hier ist es.»
«Hier?»
In dem Haus wohnte bis zum Sommer des Vorjahres Herbert Heinzen. Er sprach von sich selbst immer in der dritten Person, er sagte immer: «Herbert geht zum Friedhof», «Herbert kauft sich Berliner in Regines», «Herbert muss jetzt schlafen gehen.» Herbert teilte sich den Leuten gerne mit, wenn sie gerade da waren, und sie nickten und sagten: «Das mach mal, Herbert.» Manchmal stand er nachts auf der Kreisverkehrsinsel im Dorf und redete wirres Zeug. Er ist im Krieg verschüttet gewesen, sagt die Mutter. Aber er kam nie in ein Heim, was auch nicht gut für ihn gewesen wäre, sagt auch die Mutter, da er das Eingesperrtsein nicht ausgehalten hätte. Im August lag er auf der Kreuzung, auf dem Stück Rasen im Kreisverkehr, sein Kopf auf einem Bettkissen, er hielt es mit beiden sehnig dünnen Armen umfasst, der knochige Kopf im rosa Kissen, das graue Haar verknittert, lag er eingerollt im Gras und war tot. Ava sah ihn, viele kamen und sahen ihn, bis ein Arzt kam und bis jemand eine Decke über ihn legte und ihn mitnahm. Er war nicht gern in Häusern, er schlief lieber auf einer Campingliege auf seinem Hof unter dem schwarzen Himmel, wenn es warm genug war, und hatte immer alle Fenster und Türen weit auf stehen, wenn er drinnen war.
Nun wohnen die hier, denkt Ava, und es passt ihr nicht, aus irgendeinem Grund. Das Haus hat sich kaum
Weitere Kostenlose Bücher