Ehrbare Händler: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Drohungen. Das verstehe ich nicht. Warum will sie das verbergen? Will sie denn den Mord an ihrem Mann nicht aufgeklärt haben?«
»He, Schwesterchen, is’ das so schwer zu versteh’n?« Lyse stemmte ihre Hände in die Hüften. »Die Frau lässt lieber ’nen Mörder entwischen, als dass nur die allerkleinste Unredlichkeit auf ihre Familie fällt. Ich kenn die Alte! Ehrlich! Die is’ frommer als alle Pfaffen zusammen. Und immer nur am Rumnörgeln. Bei ihrem Kerl genauso wie bei mir damals. Ständig hat se was zu meckern. Was war ich froh, als ich da wieder raus war!«
Die Frau war immer lauter geworden. Um ihrem Unmut Luft zu machen, trat sie gegen einen Stuhl, der sich polternd überschlug und fast das Mädchen getroffen hätte. Das war geistesgegenwärtig zur Seite gesprungen und schrie die Mutter an: »Spinnst du?«
»Redet man so mit den Eltern?«
»Lasst mich doch in Ruhe!« Und schon war das Mädchen in Richtung Treppe verschwunden.
»Komm bloß nicht wieder! Sonst gibt’s ’ne Tracht!«, brüllte Lyse hinter ihr her. »Die Kinder haben heute keinen Respekt mehr. Bei uns gab’s das früher nich.«
Agnes war zutiefst schockiert. Nie hätte sie gedacht, dass es Menschen gab, die sich so benahmen. Wie froh war sie, in einem geordneten und wohlbehüteten Haus aufgewachsen zu sein. Unter solchen Bedingungen konnten Kinder doch nicht leben! Was sollte aus ihnen werden, wenn sie nur Schmutz, Lieblosigkeit und Gewalt kannten? Das war keine Familie, das war die Hölle. Aber wie konnte man diesen Menschen helfen, sie aus ihrem Elend befreien? Doch jetzt hatte sie keine Zeit, darüber nachzudenken, das musste sie später tun. Jetzt galt es, den Tod des Händlers aufzuklären.
»Was könnt Ihr mir noch über die Witwe Bode sagen?«, fragte die Nonne deshalb.
»Die Bode? Ehrgeizig und rechthaberisch. Sie hasst ihren Mann für seine Anerkennung bei den Handwerkern. Für sie sind das doch nur kleine Leute. Nicht ihrem Stand angemessen. Ich glaube eher, sie is’ froh, dass er weg is’. So kann se das Geschäft verkaufen und als ehrbare Witwe von ’ner Rente leben. Wenn Ihr mir nich glaubt, fragt doch die neue Magd, die Petra. Die wird Euch auch’n paar Geschichten erzählen können. Das glaubt man!«
Aber dem Hauptmann der Stadtwache wurde dieses Gerede zu viel. Er fuhr dazwischen: »Jetzt genug geplaudert.« Er wandte sich wieder an Konrad Hus: »Wo warst du am letzten Dienstag? Am Abend, als der Händler Bode getötet wurde.«
Inzwischen stand der Mann genau vor dem Hauptmann. »Was weiß ich! Kann mir doch nischt alles merken. Eine Woche ist doch so lang.«
Wolfram, etwa einen halben Kopf größer als Konrad und viel kräftiger gebaut, ergriff dessen Oberarme und schüttelte ihn wie einen leeren Mehlsack. »Los, sag schon, Bursche! Oder ich nehm dich mit!«
»He!«, warf sich Lyse dazwischen. »Ganz ruhig! Er kam in der Nacht betrunken nach Hause. Das weiß ich noch ganz genau. Wenn’r so voll is’, weiß er halt nicht mehr, wo er war. So betrunken hätte er keinen ermorden können.«
Wolfram schob die Frau zur Seite. »Vielleicht hat er ihn erst umgebracht und dann aus Freude über seine Tat einen gesoffen.«
»Nein, du Sau!«, schrie Lyse und hieb dem Hauptmann ihre Fäuste ins Gesicht. Doch der fing sich schnell. Er stieß den Mann zur Seite, um seine Hände frei zu haben, und gab dann der Frau eine so gewaltige Ohrfeige, dass sie durch den Raum geschleudert wurde. Als sie sich aufsetzen wollte, fiel sie gleich wieder um und stöhnte vor Schmerz. Sie schien verletzt.
»Du elendes Schwein! Was haben wir dir getan? Mein Arm!«, fluchte sie.
Agnes eilte zu der Frau. Hoffentlich hatte sie sich nichts gebrochen. Ein gebrochener Unterarm oder eine ausgekugelte Schulter waren kein Problem, das wäre in ein paar Wochen ausgeheilt. Ein Bruch des Oberarms oder gar der Schulter jedoch bedeutete eine Einschränkung für das gesamte weitere Leben. Die Nonne wollte gerade die Hand von Lyse Hus nehmen, als diese begann, sie wüst zu beschimpfen. Die unflätigsten und gemeinsten Bezeichnungen wurden ihr an den Kopf geworfen. Agnes erstarrte. So hatte sie noch nie jemand beschimpft. Sie war fassungslos über die üblen Beleidigungen.
»Ihr seid grausam! Brutal! Kennt Ihr denn keine Liebe?«, zeterte Lyse.
»Doch. Ich … ich …«
»Warum tut Ihr das? Ihr seid kein Mensch! Ihr seid aus der Hölle!«
Benommen taumelte Agnes zurück. Sie schaute sich nach Wolfram um. Er war es doch gewesen, der die Frau
Weitere Kostenlose Bücher