Ehre sei dem Vater (German Edition)
von wem du überhaupt sprichst.“ Er konnte Barbaras aufgeregtes Gestammel noch immer nicht nachvollziehen. Ohne auf seine
Frage einzugehen fuhr sie laut schluchzend fort: „Ich mach’ mir solche
Vorwürfe!“ Endlich begriff Julian, wie ernst die Lage sein musste. Seine
Schwester war immer die Härtere und Abgebrühtere von
ihnen beiden. Ausflippen war für gewöhnlich sein Part. Julian spürte, wie seine
Knie langsam weich wurden. Am anderen Ende der Leitung wurde es bis auf ein
leises Schluchzen ganz still. Julians Nerven waren zum Zerreißen angespannt. „ Halloooo “, sagte er, “ich warte auf eine Antwort!“
.
Es hatte ihm buchstäblich die Sprache
verschlagen. Das Gefühl der Ohnmacht war so stark, dass es ihm die Kehle
zuschnürte. Den ganzen Tag lang hatte er sich zur Ruhe und Vernunft gemahnt,
jetzt aber stand er kurz vor dem Zusammenbruch. Seine Kollegen hatten von
seinem psychischen Ausnahmezustand nichts mitbekommen und nahmen ihr Gespräch
wieder auf. Nur sein direkter Vorgesetzter, Dr. Munik ,
ein älterer Mann mit gutmütigen Augen und weißen Haaren, schien sich Sorgen zu
machen:„Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“ Julian nickte. Dann gelang es ihm,
sich die Worte abzuringen: „Können wir kurz miteinander sprechen?“ - „Aber
natürlich Herr Seidl, kommen sie kurz zu mir ins Büro.“ Er führte Julian zu
seiner Tür. Das Büro war spartanisch möbliert: ein paar Stühle, ein
Schreibtisch, ein Telefon und der übliche Computer. Sie setzten sich. „Was ist
denn passiert?“, fragte Julians Vorgesetzter.
„Mein Vater ist seit einigen Tagen
verschwunden.“
„Großer Gott!“ Dr.Munik war sichtlich schockiert. „Ist denn die Polizei bereits eingeschaltet?“, fragte
er.
„Selbstverständlich. Die können uns im Moment
leider auch nicht viel weiterhelfen. Nur insoweit, dass sie bisher noch von
keinem Unfall oder Verbrechen in unserer Gegend wissen. Meine Familie ist am
Boden zerstört. Er hat sich nicht verabschiedet, niemand hat ihn gehen sehen.“
Julian stockte kurz, bevor er mit seinem eigentlichen
Anliegen herausrückte: „Mir ist klar, dass es im Moment hier im Krankenhaus drunter
und drüber geht ……… . Wär’s vielleicht trotzdem möglich, einige Tage Urlaub zu
bekommen?“
„Bleiben Sie, solange Sie gebraucht werden. Es
wird bestimmt nicht einfach, die nächste Zeit ohne Sie auszukommen, aber wir werden
das schon regeln. Ich wünsche Ihnen viel Glück bei der Suche!“
Überwältigt vor Erleichterung sprang Julian
auf und schüttelte Dr. Munik dankbar die Hand. Er
hätte nie gedacht, wie wichtig ihm das Wohlergehen seines Vaters war. Als er
das Büro seines Vorgesetzten hinter sich geschlossen hatte, ließ er die
Ereignisse der letzten Tage nochmals vor seinem geistigen Auge ablaufen: Am Sonntagmorgen
hatte er noch versucht seine Schwester Barbara aufzumuntern. Sie hatte ihm nach
langem Hin und Her erzählt, dass sein Vater am Vortag den Frühstückstisch in
der üblichen schlechten Laune verlassen hatte und danach von keinem
Familienmitglied mehr gesehen worden war. Obwohl Julian selbst äußerst
beunruhigt war, wollte er nicht ausschließen, dass sich das Ganze wieder in
Wohlgefallen auflösen könnte. Vielleicht hatte der Vater ihnen allen einfach
nur einen Denkzettel verpassen wollen? Ganz untypisch wäre das ja nicht für ihn
gewesen. Als man jedoch Sonntag Nacht noch immer kein
Lebenszeichen von Franz Seidl erhalten hatte, war Julians vermeintliche Ruhe
endgültig dahin. Die Familie hatte eine Vermisstenanzeige bei der Gendarmerie
erstattet und wartete seither gespannt auf Ergebnisse. Julian rief beinahe
stündlich zu Hause an. Bisher hatte er nur mit Barbara gesprochen. Er wagte
nicht, seine Mutter am Telefon zu verlangen, da er fürchtete, ihren Schmerz
nicht zu ertragen. Gleichzeitig überfiel ihn ein schlechtes Gewissen für seine
negativen Gedanken. In Büchern und Zeitschriften, die sich mit Übersinnlichem
auseinandersetzten, hatte er schon oft gelesen, dass negative Gedanken schlechte
Ereignisse nach sich zogen. Er zwang sich zur Vernunft. Heute war bereits
Mittwoch, und noch immer gab es keine Spur von seinem Vater.
„Es muss eine einfache Erklärung für sein
Verschwinden geben. Irgendjemand hat ihn sicher gesehen. Ich muss selbst vor
Ort nach ihm suchen“, er ballte energisch die Faust und fügte nach einer kurzen
Pause traurig hinzu: „Auch wenn Vater keinen gesteigerten Wert auf mein
persönliches Engagement gelegt hätte…“
Als er
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