Ehre sei dem Vater (German Edition)
ein, ohne sie
direkt anzusehen. Sie machte einen niedergeschlagenen Eindruck, bemerkte Marie
mit einer gewissen Schadenfreude. „Läuft wohl nicht besonders im Büro!“, dachte
sie erheitert und verschwand mit einem flüchtigen „Oma braucht mich!“ durch die
doppelte Schwingtür aus Holz in die Räume ihrer Großmutter. Ein leichter Stich
in der Magengegend mahnte an ihr Gewissen. Doch Marie wischte es weg.
Normalerweise war es zumeist sie selbst, die niedergeschlagen und frustriert
war, während Verena sie einfach nicht beachtete. Die sollte ruhig einmal sehen,
wie sich das anfühlt, wenn man ganz allein mit seinen Sorgen dasteht. Hätte sie
früher ein wenig Rücksicht auf Marie genommen und nicht auch noch ihren Vater
vergrault, könnte sie es heute auch viel leichter haben. Und außerdem hatte die
Alte sie schon wieder „Kleine“ genannt. Mit bald vierzehn hat man es wirklich
nicht mehr nötig, sich so heruntermachen zu lassen! Warum also sollte sie sich
mit einem schlechten Gewissen herumschlagen, wenn die Andere auch nicht besser
war als sie selbst.
„Sieh dir das an! Na, was sagst du?“ Eveline
Bach überschlug sich beinahe vor Enthusiasmus über ihr eigenes Werk und richtete
die Augen erwartungsvoll auf ihre Enkelin. Marie stellte sich etwa einen Meter vor
das Kunstwerk hin. Sie machte ein paar Schritte zur Seite, ging dann noch
einige Schritte nach hinten und betrachtete das bunte Ölbild auf der fast
quadratischen Leinwand von knapp einem Meter Seitenlänge wie eine erfahrene
Kunstkritikerin. „Soso, so sieht für Sie also eine Verführung aus.“ Marie neigte
den Kopf zur Seite, machte eine längere Gedankenpause und setzte dann mit
gespielt nasalem Tonfall fort: „Sehr interessante Interpretation Frau Bach! Wie
lange leben Sie nun schon gefrustet und allein in den Bergen?“
„Nun werd ja nicht frech, meine Liebe, dafür
habe ich dich nicht hergeholt!“, Eveline stürmte mit erhobener Hand lachend auf
Marie zu. „Nein ehrlich“, wehrte Marie ab, „das Bild ist super! Ich hätte es
nicht besser machen können. Allerdings hätte ich vielleicht ein wenig mit der
Farbe Blau gespart und stattdessen Rottöne gewählt.“ Eveline hielt inne,
schaute mit zusammengekniffenen Augen auf ihr Werk, nickte schweigend und
sagte: „Du hast völlig Recht, wieso hab’ ich das nicht längst bemerkt?
Verführung hat mit Leidenschaft zu tun und Leidenschaft würde ich auch nicht
unbedingt in Blautönen ausdrücken. Wie konnte ich nur so blind sein. Marie , du bist ein Genie !“
„He, das hat sich auch noch gereimt und was
sich reimt ist gut, würde Pumuckl sagen!“ Stolz und zufrieden
ließ sich Marie auf dem gelb- und orangegestreiften Zweiersofa nieder. Vier
orange Polster lagen unordentlich zwischen Kunstzeitschriften und einer mit
Farbklecksen übersäten Strickjacke. Marie umfasste ein Kissen und kuschelte
sich gemütlich in die Ecke, während sie ihre Großmutter bei der Arbeit beobachtete.
Sie war mit ihren 59 Jahren eine überaus ansprechende Person, vor allem, da ihr
schlanker, großgewachsener Körper sie noch um einige Jahre jünger erscheinen
ließ. Die großen, mit einem dichten Wimpernkranz umrahmten, dunklen Augen
wirkten, eingebettet in zahllose feine Lachfältchen, empfindsam und warm. Sie
ließen dem Betrachter die vielleicht etwas zu groß geratene Nase gnädig übersehen.
Ihre Mundpartie war breit und ihre gleichmäßigen, weißen Zähne blitzten bei
jedem Wort hervor. Obgleich sie nicht makellos hübsch war, wirkte sie auf Marie
mit ihren knabenhaft kurz geschnittenen grauen Haaren, die im Nacken und im
Bereich der Ohren freche fransige Strähnen bildeten, sehr attraktiv. Die
Traumfänger aus Federn unterstrichen als Ohrschmuck perfekt ihre künstlerische,
etwas ausgeflippte Ausstrahlung.
Marie drückte das Kissen noch ein bisschen
fester an sich. Hier bei ihrer Großmutter fühlte sie sich so richtig wohl. Neben
Eveline erlebte sie sich als erwachsenen Menschen – akzeptiert, egal ob sie im
Moment blaue, grüne oder gelbe Haare hatte. Mal abgesehen davon, dass sie die
Haarfarbe ohnehin erst einmal gewechselt hatte. Ihre Meinung war wirklich gefragt. Keine leeren Floskeln. Achtung
und Zuneigung waren hier greifbar. Marie sah zu, wie Eveline ausdauernd, jedoch
mit flinken Handbewegungen rote, gelbe und weiße Ölfarben auf ihrer Palette mischte,
bis sie endlich mit dem Ergebnis zufrieden war. Geschickt fügte sie mit
verschieden breiten Pinselstrichen Rotschattierungen in ihr Werk
Weitere Kostenlose Bücher