Ehre sei dem Vater (German Edition)
Schlichtheit“,
dachte er sarkastisch, als er einen Gegenstand auf dem ungepolsterten Sessel davor fixierte, „der künstliche Behelf eines Krüppels!“ Er schloss die
Augen und versuchte seine Gedanken wieder auf etwas Positiveres zu lenken. „Man
scheint in diesem Gebäude größten Wert auf Sauberkeit zu legen“, dachte er, als
ihm der vertraute Geruch von Schmierseife in die Nase stieg. Seine Frau hielt
große Stücke auf dieses natürliche Putzmittel. Ein Lächeln huschte über seine
Miene. Er stellte sich Anna oder eine seiner Töchter in diesem bescheidenen
Raum vor. Allein ihre Tiegelchen und Bürsten würden
den Platz hier bei weitem sprengen. Von der Kleidung ganz zu schweigen. Beim
Gedanken an zuhause umklammerte ihn wieder tiefe Traurigkeit und die
übermächtige Angst vor dem, was noch kommen würde…… .
Der Kaffee stand, ebenso wie der liebevoll
kredenzte Kuchen, unangetastet auf dem Frühstückstisch, als Julian das Haus
verließ. Sein Magen rebellierte. Er hatte in der letzten Nacht kaum geschlafen.
Die Übelkeit, die ihm am Morgen zu schaffen gemacht hatte, war nicht nur auf
den übermäßigen Weingenuss des Vorabends zurückzuführen. Unzählige Fragen waren
ihm durch den Kopf gegangen und hatten ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Obwohl
sein Elternhaus nur wenige Minuten entfernt war, hatte er kurz überlegt, ob er
in sein Auto steigen sollte. Jetzt war er froh, dass die Vernunft gesiegt
hatte. Mit langsamen, gemächlichen Schritten machte er sich auf den Weg. Das
fröhliche Zwitschern der Vögel und die wärmenden Strahlen der Sonne munterten
ihn ein wenig auf. So sehr er sich auf die lang ersehnte Begegnung mit seiner
Familie freute, so sehr erfüllte ihn doch eine unterschwellige Angst, die er
nicht hundertprozentig zu erklären vermochte. Vielleicht erwartete er
unbewusst, doch auf seinen Vater zu treffen, wahrscheinlich war es aber auch
die Angst, dem Leid seiner Mutter hilflos gegenüber zu stehen.
Im Haus hatte sich - abgesehen von dem neuen
Linoleum-Fußboden in der Küche - wenig verändert. Die inzwischen etwas abgenutzte
Eckbank strahlte immer noch dieselbe Gemütlichkeit aus wie vor scheinbar endlos
langen sieben Jahren, als er zuletzt hier gesessen hatte. Jetzt fiel ihm auf,
dass er sogar den leichten Stallgeruch, der das Haus trotz peinlichster
Sauberkeit immer ein wenig erfüllte, ungeheuer vermisst hatte. Der Hund hatte ihn
überschwänglich begrüßt und Barbaras Söhne, die ihn anfangs etwas zurückhaltend
empfangen hatten, waren für eine ganze Stunde nicht von seiner Seite gewichen. Endlich
war auch seine Mutter zu ihnen gestoßen und er genoss die herzliche Umarmung,
mit der sie ihn begrüßte. So hatte er sich ein „Heimkommen“ immer vorgestellt.
Der einzige Schönheitsfehler war die bedrückte Stimmung, die sich nach der
ersten Willkommensfreude bald wieder einstellte.
Julian saß nun mit Manfred, Barbara und
seiner Mutter auf der grün-karierten Bank. Inzwischen hatte er beinahe das
Gefühl, nie weg gewesen zu sein. Seine Mutter, die er zwar zwischendurch ab und
zu bei Eva getroffen hatte, schien durch die Ereignisse der letzten Tage um
Jahre gealtert zu sein. Noch vor wenigen Minuten hatte sie, immer wieder von
leisem Schluchzen unterbrochen, über die letzten Stunden vor dem Verschwinden
ihres Mannes erzählt. Nun saß sie, die Schultern nach vorne gebeugt, neben
Julian und hielt seinen rechten Arm mit beiden Händen fest. Bei ihrem Anblick
kostete es Julian einige Mühe, nicht auch noch in Tränen auszubrechen. Aber er
riss sich zusammen. Tröstend legte er seinen Arm um ihre Schultern. „Alles wird
sich in Wohlgefallen auflösen, Mutter, da bin ich ganz sicher. Ich kann mir
beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. In
diesem Fall hätten wir längst davon erfahren“, sagte er mit fester Stimme. „Da
hast du bestimmt Recht“, warf Barbara ein, „aber ich habe trotzdem das Gefühl,
die Gendarmen lassen sich viel zu lange Zeit. Bisher wurde noch gar nichts
unternommen, außer dass unser Vater nun in sämtlichen Polizeicomputern
Österreichs als vermisst aufscheint.“ Manfred schaltete sich ein: „Barbara, ich
bin überzeugt, die wissen, was sie tun. Schließlich ist Franz mit Sicherheit
nicht der erste Mensch, der in unserer Gegend verschwunden ist.“
„Ich habe jedenfalls noch von keinem anderen
Fall gehört“, widersprach Barbara.
„Das führt zu nichts!“ unterbrach Julian.
„Was genau würdest du
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