Ehre sei dem Vater (German Edition)
unternehmen?“, fragte er seine Schwester.
„Du erinnerst dich doch noch an damals, als
unser Dad für fast eine ganze Woche verschwunden war, oder? Vieles weist darauf
hin, dass er sich damals in Deutschland, genauer gesagt in Esslingen am Neckar
aufgehalten hat. Aber warum? Was hatte er so geheimnisvolles dort zu tun und
warum verschwindet er genau zu dem Zeitpunkt, als der Fremde ihn besuchen
wollte? Kommt dir das alles nicht sehr eigenartig vor?“ Ohne seine Antworten
abzuwarten fuhr sie fort: „Ich habe schon mit einem zuständigen Revierinspektor
gesprochen, aber zurzeit kann anscheinend noch nichts unternommen werden. Die
Gendarmerie will darauf warten, bis dieser Herr Millner -Rubens aus Deutschland nach seinem Urlaub möglicherweise doch noch einmal auftaucht. Aber meinst du nicht
auch, Julian, dass man schon vorher etwas unternehmen sollte? Vielleicht hat er den Mann doch noch getroffen und
ist mit ihm zusammen weggefahren? Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass
man bei so einem ausgefallenen Namen nicht auch Verwandte in Esslingen ausfindig
machen könnte.“ Die Sätze sprudelten nur so aus ihr heraus und Julian nahm an,
dass die anderen Anwesenden, ihren Reaktionen nach zu urteilen, diese Ansprache
schon des Öfteren angehört hatten. Er beobachtete, wie sich Barbara energisch
ihre kurzen Stirnfransen aus dem Gesicht wischte. Die großen, grünen Augen
leuchteten gefährlich. Sie konnte sehr überzeugend sein und das wusste sie
auch. Julian hatte ihre direkte und couragierte Art immer bewundert. Wenn sie
sich etwas in den Kopf setzte, dann führte daran für gewöhnlich kein Weg vorbei.
„Du hast doch bestimmt schon einen konkreten
Plan, stimmt’s?“, fragte er mit einem Zwinkern in Barbaras Richtung. Sie war
inzwischen aufgestanden. Längere Zeit still zu sitzen war ihr schon immer
schwer gefallen. Ihre schlanke, sportliche Figur, entsprach so gar nicht der einer
Bäuerin im landläufigen Sinn. In der kurzen Hose, die sie heute trug, erinnerte
sie viel eher an eine Sportlehrerin. Die muskulösen Waden wirkten schon fast
ein bisschen männlich. Sie legte allergrößten Wert auf körperliche Fitness,
joggte fast täglich in einem nahe gelegenen Waldstück oder setzte sich, so oft
es ging, auf ihr Rennrad. Julian bewunderte ihre Disziplin und gönnte ihr von
ganzem Herzen, dass sie von ihrer Familie die nötige Unterstützung bekam, um neben
der Arbeit auf dem Hof auch ihren sportlichen Hobbies nachgehen zu können.
„Jawohl. ich habe mir etwas ausgedacht“, unterbrach sie Julians Gedankengänge.
Sie schlug vor, dass Julian sich im Internet schlau machen sollte, ob es sehr
viele „ Millner -Rubens“ in Esslingen geben würde. Bis
zu hundert Stück seien egal, meinte sie. Sie selbst würde jeden einzelnen von
ihnen anrufen. Wenn wir erst einmal den richtigen gefunden hätten, wäre alles Andere
nur noch Formsache. Wenn nötig, müsste einer
von uns (Julian wusste, wer damit gemeint war) direkt nach Deutschland, um
vor Ort zu recherchieren. „Wir müssen als allererstes herausfinden, was unser
Vater dort gemacht hat. Ich glaube, das ist der Schlüssel zum Erfolg. Wenn wir
wissen, was er uns die ganze Zeit verheimlicht hat, finden wir ihn. Da bin ich
ganz sicher!“
Anna Seidl hob resignierend ihre rechte Hand.
„Ich weiß gar nicht, ob ich wirklich alles wissen möchte“, sagte sie.
„Sch…., auch das noch!“ , fluchte Verena als
sie vor der verschlossenen Haustüre stand. Es war bald drei Uhr morgens. Nachdem
sie mit Eva und Julian einige Achtel Rotwein genossen hatte, musste sie wohl
oder übel einen Kilometer Fußmarsch bis nach Hause in Kauf nehmen. Während der
angeregten Gespräche hatte sie überhaupt nicht bemerkt, wie sehr ihr der
Alkohol zugesetzt hatte. Erst an der frischen Luft war ihr schmerzlich bewusst
geworden, dass sie erheblich über die Stränge geschlagen hatte. Leicht
schwankend hatte sie versucht, die Wegstrecke so rasch wie möglich hinter sich
zu bringen. Und nun, endlich am Ziel, musste sie feststellen, dass sie keinen
Haustorschlüssel mithatte. „Na wunnerbar ! Jetzt muss
ich auch noch mein Töchterchen aus dem Schlaf reißen“, sagte sie zu sich mit
schwerer Zunge. „Als schlechte Mutter sollte man wenigstens ein gutes Beispiel
abgeben, oder? Nein, das geht so: „Wenn ich schon keine gute Mutter bin, so
soll ich ihr wenigstens ein schlechtes Beispiel abgeben. Ach Schwachsinn!“ Hin-
und hergerissen zwischen Selbstironie und Scham über ihren
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