Ehre sei dem Vater (German Edition)
stets betonte makellose Dekollete oder ihr
selbstbewusster, lasziver Gang am anziehendsten. Julian aber liebte vor allem
ihr Lächeln und ihren Humor. Er hatte nie jemanden kennen gelernt, der so
ungeniert über sich selbst lachen konnte. Ihre Selbstironie, verbunden mit dem
Geschick, immer wieder irgendwelche Fettnäpfchen anzusteuern und der
Zielsicherheit immer tiefer und tiefer hinein zu treten, war unübertrefflich.
„Erde an Julian, Erde an Julian, können Sie
mich hören??!“, spottete Verena, um ihn aus seiner Gedankenwelt zurückzuholen.
„Na, wo warst denn du gerade?“, wollte sie wissen.
„Gar nicht so weit weg, wie du vielleicht
denkst. Im Grunde war ich sogar bei dir oder besser gesagt bei uns beiden.
Manchmal kann ich gar nicht glauben, wie lange wir uns schon kennen und wie lange
wir schon befreundet sind.“
Wie hätte Verena jemals den peinlichen Vorfall vergessen können, der ihre jahrelange
Freundschaft zur Folge hatte! Damals war sie fünfzehn und Julian vierzehn Jahre
alt gewesen. Der Genauigkeit halber sei hier festgehalten, dass der
Altersunterschied in Wirklichkeit nur drei Monate ausmachte, Verena war im Mai
zur Welt gekommen und Julian im August des selben Jahres. Nicht dass das jetzt noch irgendeine Rolle gespielt hätte, nur damals
war das wichtig. Julian Seidl war - obwohl nie ein besonderer Schönling - der
Schwarm der Mädels. Seinen Status bei den jungen Frauen hatte er wohl seinem
losen Mundwerk und seiner Kameradschaftlichkeit zu verdanken. Obwohl es
natürlich ungerecht wäre zu sagen, er sei potthässlich gewesen. Nein, er war
einfach nur Durchschnitt.
Verena hatte zur damaligen Zeit schon einige Erfahrungen
mit Jungs und wollte den umschwärmten Burschen für sich erobern. Sie konnte im
Nachhinein nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob sie von selbst auf diese Idee
gekommen war, oder ob sie nur ihren Freundinnen etwas beweisen wollte. Letztlich
war es auch egal - es ging ohnehin sprichwörtlich gründlich in die Hose.
Dabei hatte alles so vielversprechend
angefangen: Verena hatte sich ihrer Meinung nach unverschämt sexy angezogen.
Wenn sie heute an die Ringelsocken und den himmelblauen, knielangen Faltenrock
zurückdachte, würde sie zwar nicht mehr dasselbe behaupten, aber damals fühlte
sie sich wahnsinnig verrucht. Gott, wenn sie nur daran dachte, wie lange sie
vor dem Spiegel gestanden hatte, um jeden einzelnen Pickel mit Abdeckstift zu
verstecken und sich die Haare neckisch aufzustecken. Ihre Freundinnen Eva Sandtner und Doris Weber waren live dabei und sie sparten
nicht mit Kritik und guten Ratschlägen. „Nein, bitte lass die Haare offen, das
steht dir viel besser!“, oder: „Der Mitesser auf der Nase ist immer noch zu
sehen!“ - „Etwas Rouge könnte deinem blassen Teint auch nicht schaden!“
Schließlich waren aber selbst die härtesten Kritikerinnen mit ihr zufrieden.
Und das war auch notwendig, sie hatte sich ja etwas wahnsinnig Wichtiges
vorgenommen. „Jules“, wie sie ihn damals lässig nannten, gehörte zu den angesagtesten Typen der Schule. Ihre Strategie sah ziemlich
genau so aus:
Punkt 1: Wie zufällig am Schultor vorbeizugehen, wenn sein Nachmittagsunterricht zu Ende war.
Punkt 2: Gemeinsam mit ihm in die gleiche Richtung gehen.
Punkt 3: Ihn in ein angeregtes Gespräch verwickeln.
Punkt 4: Eine Verabredung zu einer gemeinsamen Unternehmung.
Bis dahin lief alles wie am Schnürchen und
keine ihrer Freundinnen hätte auch nur ein Wort des Tadels aussprechen können.
Im Gegenteil, den Mädels war vor lauter Bewunderung der Mund offen stehen
geblieben und Verena fühlte sich in ihrer neuen Rolle als Verführerin sichtlich
wohl. Die Verabredung zu einem Kinobesuch sollte noch am gleichen Abend
stattfinden, was wiederum schon allein aus schmink- und anziehungstechnischen
Gründen perfekt war.
Um 17.30 Uhr wurde sie von Julian zu Hause
abgeholt. Das sorgte zwar bei ihrer Mutter für hochgezogene Augenbrauen und ein
hintergründiges Lächeln, aber Verena sah großzügig darüber hinweg.
Normalerweise hätte sie so eine Reaktion wütend gemacht, aber heute wollte sie
ihre Energien für wichtigere Dinge aufsparen. Selbstverständlich wollten auch
Eva und Doris den Siegeszug ihrer Freundin weiter mitverfolgen und hatten ebenfalls Plätze für die Abendvorstellung des Films „Die blaue
Lagune“ reserviert.
Julian war wie immer gut angezogen und der
sprichwörtliche „Schmäh“ lief von Anfang an wie geschmiert. Verena hatte die
Kartenreservierung
Weitere Kostenlose Bücher