Ehre sei dem Vater (German Edition)
während er seinem Gegenüber eindringlich in die Augen
schaute.
Es war eng in seiner Brust, eine dumpfe
beklemmende Enge, als werde sein Herz zusammengepresst und könne nicht frei
schlagen. Wenigstens spürte er in diesem Augenblick keinen Schmerz. Auch nicht
dieses Stechen, das ihm in letzter Zeit so nachdrücklich klar machte, dass er so
nicht weiterleben konnte. Wie mochte es wohl sein, an einem Herzinfarkt zu
sterben? Wie lange würde der Todeskampf dauern? Wie schmerzhaft war das am
Ende? Wäre das nicht die ideale Lösung für seine Probleme? Er stieß die Tür der
kleinen Hütte auf. Endlich, nach zwei Tagen als Eremit wieder ein Hauch von
Freiheit. Warme, sanfte Luft strömte herein. Es roch nach Blumen und nach
feuchter Erde. Er hörte in der Ferne einen Hund bellen, der kurz das Rauschen
des Klosterbrunnens übertönte. Danach wieder nur das gleichmäßige Plätschern
des Wassers.
In einer Wiese liegen. In den klaren, blauen
Himmel blicken. Den Geruch der Natur atmen, ihrer Stimme lauschen. Wann hatte
er das zuletzt getan? Es musste ewig her sein, vielleicht war er noch ein Junge
gewesen. Langsam schritt er durch die Tür nach draußen. Die Vögel auf dem Haselstrauch
vor der Hütte beachteten ihn nicht. Er bückte sich mühsam, zog seine Schuhe und
Socken aus und spürte zum ersten Mal seit Ewigkeiten Gras unter seinem nackten,
rechten Fuß. Diesmal störte er sich nicht daran, dass diese Empfindung nur für
einen Fuß möglich war. Er überlegte sogar kurz, die Prothese abzunehmen,
verwarf diese Idee aber wieder, weil er fürchtete, dadurch von seinen
überwältigenden Empfindungen abgelenkt zu werden. Hatte es je irgendwo so
stark, so intensiv nach Blüten gerochen? Oder hatte er es einfach nie bemerkt?
Er stützte sich mit den Händen hinter seinem Körper
auf und setzte sich in die Wiese, atmete tief und ruhig. Zum ersten Mal kam ihm
der Gedanke, dass es möglich wäre, einfach alles abzustreifen, seine Probleme,
sein ganzes bisheriges Leben. Den gewohnten Franz abzugeben und in seinen alten
Tagen noch einmal ein neuer Mensch zu werden. Einer, der seine Behinderung
einfach als gegeben hinnehmen konnte und froh darüber war, dass es ihn nicht
noch viel schlimmer getroffen hatte. Einer, der über seinen Schatten springen
und - wenn seine Familie bereit wäre, ihm zu verzeihen - schließlich sogar sich
selbst verzeihen könnte? Am Ende eines erfüllten Tages auf einer solchen Wiese
oder auf der Hausbank zu sitzen, die geliebte Frau an der Seite und dem Hund
bei seinen Spielen zusehen.
Er musste selbst lachen über das naive Bild,
das er von seiner Zukunft zeichnete und wusste doch, dass er sich nichts
sehnlicher wünschte als das. Er lehnte sich ins Gras zurück und blickte hinauf
in den blauen Himmel.
„Endlich wieder einmal schönes Wetter!“ flüsterte
Marie halblaut vor sich hin. Doch das, was ihr nun bevorstand, war trotz strahlendem
Sonnenschein alles andere als angenehm. Zum ersten Mal bereute sie, dass sie
außer ihrer Mutter und ihrer Großmutter nie jemandem davon erzählt hatte, dass
sie die Sprühaktion nicht allein durchgezogen hatte, dann wäre sie in dieser
Situation wenigstens nicht allein gewesen.
Natürlich hatten die Gendarmen so einen
Verdacht, aber sie wollte ihre Freunde da nicht mit hineinziehen. Dass die Jungs
und Miriam ihr angeboten hatten, sich auch zu stellen, hatte ihr gereicht. Sie
wusste, dass sie nicht absichtlich im Stich gelassen wurde und war fast ein
bisschen stolz darauf, die Sache ganz allein durchzuziehen. Bisher hatte - von
ihr selbst einmal abgesehen – niemand eine Anzeige gegen sie erstattet. Aber
nun musste sie zu ihrer Tat stehen und so bald als möglich die Konsequenzen
ziehen, damit der Schaden nicht noch viel größer werden würde, und das trieb
ihr den kalten Schweiß auf die Stirn. Sie hatte Angst vor Nervosität keinen Ton
herauszubringen.
„Guten Tag …. – nein, natürlich Grüß Gott , mein Name ist Marie Bach!“
brummelte sie. „Ich, ich habe etwas zu beichten … - nein Blödsinn, so kann ich
das nicht sagen, sonst steckt mich der Kapuziner am Ende noch in einen
Beichtstuhl! Obwohl, wenn ich mir das so recht überlege, wäre das vielleicht
gar nicht das Schlechteste. Dann müsste ich dem hochwürdigen Herrn nicht ins
Gesicht schauen, wenn ich ihn um Entschuldigung bitte!“
Auf ihrem Weg die Klostermauern entlang kam
sie auch an ihrem „Kunstwerk“ vorbei, das sie nun bei weitem nicht mehr so
beeindruckte wie noch vor wenigen
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