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Ehrenhüter

Ehrenhüter

Titel: Ehrenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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die ungeheure Wucht der Trauer, die in der kleinen Wohnung hing, hinter sich zu lassen. Er hatte Wessel benachrichtigt. Der Kollege sollte Petersen dabei unterstützen, die Geschwister und Nilgüns Mutter zu vernehmen.
     
    Die Identifizierung in der Rechtsmedizin würde Steenhoff wohl nie vergessen. Gefasst ließ sich Kemal Cetin an die Bahre führen, auf der sich unter einem großen Tuch der schmale Körper des Mädchens abzeichnete. Steenhoff hatte ihn so behutsam wie möglich darauf vorbereitet, dass die Tote tagelang auf einer feuchten Wiese gelegen und der Verfall seine Spuren hinterlassen hatte. Aber er wusste nicht, ob Kemal Cetin wirklich verstanden hatte, was er ihm damit sagen wollte.
    Als der Assistent des Rechtsmediziners auf ein Zeichen von Steenhoff langsam das Tuch vom Gesicht des toten Mädchens zog, schwankte Kemal Cetin nicht einen Moment. Er schaute nur kurz auf den Leichnam und drehte sich dann zu Steenhoff um. «Das ist sie.»
    Steenhoff war sich nicht sicher, ob es eine Frage oder eine Feststellung war. Daher fragte er noch einmal nach: «Das ist also ohne Zweifel Ihre Tochter?»
    Der Mann sah ihm direkt in die Augen. «Die Tote heißt Nilgün. Aber ich habe keine Tochter mehr, die diesen Namen trägt.» Dann drehte sich Kemal Cetin um und ging zur Tür, ohne dem Mädchen noch einen Blick zu schenken.
    Erschüttert sah Steenhoff ihm nach. Der Assistent stand wie gelähmt neben dem Leichnam und hielt noch immer das Tuch über dem Gesicht des Mädchens. Steenhoff konnte es nicht fassen. Kemal Cetin sagte sich vor den Kühlkammern in der Rechtsmedizin von seiner ermordeten Tochter los, nur weil sie schwanger gewesen war? Die Heftigkeit, mit der die Wut ihn überwältigte, kam für ihn selbst überraschend. Der Mann hatte fast die Tür erreicht, als Steenhoff ihn brutal am Arm packte und ihn zwang, sich umzudrehen.
    «Verdammt, da liegt deine Tochter», rief er. «Tot! Verstehst du? Tot! Dein eigen Fleisch und Blut – und du tust so, als gehe dich das alles hier nichts an. Nur weil sie sich gestattet hat, eure Regeln zu brechen und jemanden ohne eure Genehmigung zu lieben. Ich will, dass du sie dir ansiehst. Schau ihr ins Gesicht!»
    Steenhoff schubste den Mann zurück zur Bahre. Der Stoß war so heftig, dass Kemal Cetin strauchelte und sich auf der Bahre aus Stahl abstützen musste. Schwer atmend blieb er über seine tote Tochter gebeugt stehen. Aber er sah durch sie hindurch. Steenhoff wollte nachsetzen, ihn zwingen, Nilgün anzuschauen, aber plötzlich stand der Assistent vor ihm. Der Mann war einen Kopf größer als er und muskulös. Er hatte Steenhoff an den Oberarmen gepackt und hielt ihn fest.
    «Lass gut sein, Frank.» Seine sanfte Stimme stand im krassen Gegensatz zu seiner Kraft.
    Steenhoff starrte den Mann an, dann nickte er resigniert. Mit schweren Schritten ging er, ohne sich noch einmal umzudrehen, zum Ausgang.
    «Ich warte im Auto auf Sie.»
     
    Kurze Zeit später kam Kemal Cetin aus der Rechtsmedizin. Steenhoff riss die Beifahrertür auf und machte dem Mann ein Zeichen einzusteigen. Kemal Cetin hatte erwartete, dass der Kommissar ihn wieder nach Walle zurückfahren würde, aber zu seiner Überraschung wendete der Polizist sein Dienstauto und fuhr mit ihm in die entgegengesetzte Richtung.

08
    Die Etage der Mordermittler lag bis auf ein Zimmer schon im Dunkeln, als Steenhoff seine Chipkarte aus dem Portemonnaie nahm und sie über das Lesegerät an der Tür zog. Er öffnete die Tür zum Kommissariat und ließ Kemal Cetin den Vortritt.
    Bei Fabian Block war noch Licht. Er hatte an diesem Abend Mordbereitschaft. Steenhoff hatte den jungen Kollegen bereits per Handy gebeten, an der Vernehmung teilzunehmen und das Gespräch zu protokollieren. Block sagte sofort zu, obwohl er sich bereits auf seinen Feierabend gefreut hatte. Der würde nun auf sich warten lassen. Steenhoff war für seine stundenlangen Vernehmungen bekannt.
    Steenhoff setzte eine Kanne Kaffee auf und stellte auch Kemal Cetin ungefragt eine Tasse hin. Der Gemüsehändler schüttelte den Kopf. «Ich trinke keinen Kaffee.»
    «Okay. Dann koche ich Ihnen eben einen persischen Tee. Soll niemand sagen, man werde hier nicht gut versorgt»,antwortete Steenhoff kühl und griff sich die Teedose seiner Kollegin Petersen.
    Kemal Cetin verzog keine Miene.
    Neugierig schaute Block von seinem Computer hoch. Die Atmosphäre zwischen den beiden Männern war geladen. Aber keiner von beiden verlor ein Wort über das, was gerade in der

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