Ehrenhüter
eine vernünftige Antwort. Nur diese kryptischen Aussagen, aus denen man nicht schlau wird. Unmöglich! Was ist das eigentlich für ein Umgang mit uns Bürgern? Der Staat ruft, und wir sollen springen? So geht das nicht … Und jetzt lassen Sie uns hier auch noch warten. Was ist das überhaupt für ein Unsinn, dass Lennart als Zeuge in einem Tötungsdelikt aussagen soll? Unser Junge geht an drei Tagen bis nachmittags zur Schule, und in seiner knappen Freizeit spielt er Tischtennis. Er treibt sich nicht mit irgendwelchen Chaoten aus dem Viertel herum. Das Ganze ist nichts als eine ärgerliche Verwechslung.»
Während der Schimpftirade von Stefanie Wagenknecht war Navideh Petersen unbemerkt hinzugekommen. Steenhoff wartete, bis die Mutter fertig war, und als sie erschöpft eine kurze Pause einlegte, bat er sie, sich zu setzen.
«Danke, dass Sie beide so schnell gekommen sind. Ich kann Ihnen versichern, dass es keine Verwechslung ist», begann er vorsichtig.
Überrascht sah Stefanie Wagenknecht ihren Sohn an. Dann fixierte sie Steenhoff böse. «Das ist unmöglich …»
«Ich erkläre Ihnen gleich, worum es geht, aber möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?»
Während Lennart Wagenknecht dankend annahm, ließ sich seine Mutter nicht so leicht erweichen. Steif saß sie auf ihrem Stuhl und musterte Petersen misstrauisch. «Darf ich zunächst erfahren, wer die Dame ist?», erkundigte sie sich mit bissigem Unterton in der Stimme.
Steenhoff unterdrückte seine Ungeduld und stellte seineKollegin vor. Dann berichtete er in wenigen Sätzen von Nilgün Cetin, deren Leiche sie am Morgen zuvor in Farge entdeckt hatten. Mutter und Sohn hatten davon in der Zeitung gelesen.
«Das war schon ein Schock für Lennart. Er kannte das Mädchen», unterbrach Stefanie Wagenknecht Steenhoff. «Nicht privat, sondern von der Schule», beeilte sie sich noch hinzuzufügen.
«Genau darüber möchten wir mit dir sprechen», erklärte Steenhoff und wandte sich Lennart Wagenknecht zu. «Wie gut kanntest du Nilgün?»
Stefanie Wagenknecht war sofort auf der Hut. Sie schnellte von ihrem Sitz nach vorn und fixierte Steenhoff angriffslustig. «Entschuldigen Sie mal, steht mein Sohn hier etwa in Verdacht, etwas mit dieser scheußlichen Sache zu tun zu haben?»
«Nein. Lennart, du sitzt hier als Zeuge und nicht als Beschuldigter», stellte Steenhoff ruhig klar und ließ die aufgebrachte Mutter einfach links liegen. «Also?»
Im Gegensatz zu seiner Mutter wirkte Lennart Wagenknecht, als könne ihn nichts so schnell aus der Ruhe bringen. Gelangweilt kaute er auf einem Kaugummi herum und zuckte mit der Schulter. «Keine Ahnung, wir kannten uns eben», sagte er gedehnt.
«Vom Tischtennis?»
Lennart lachte spöttisch auf. «Nö. Ich glaube nicht, dass Nilgün freiwillig Sport gemacht hätte … Wir kennen uns aus der Schule. Aus den Pausen. Außerdem haben wir manchmal gegeneinander Schach gespielt.»
«Das hast du ja nie zu Hause erzählt», warf seine Mutter ein.
Lennart schnaufte leise, ging aber nicht auf sie ein. «Nilgünhat in den Freistunden Schach gespielt. Gegen Geld», fügte er hinzu. «Meist hat sie gewonnen und abkassiert.»
«Hat sie auch gegen dich gewonnen?», wollte Navideh wissen.
«Ja. Sie hat gegen die meisten Jungs an der Schule gewonnen. Die Mädchen hatten erst gar keine Lust, gegen sie anzutreten. Vor allem nicht gegen Geld. Mir hat sie vor drei Wochen 20 Euro abgenommen. Dabei war ich kurz davor, sie schachmatt zu setzen», erinnerte er sich bedauernd.
«Ihr spielt um Geld?», unterbrach ihn seine Mutter entsetzt.
«Bringt mehr Spaß», antwortete der Junge trocken.
Die Mutter setzte zu einem Tadel an, aber Steenhoff kam ihr zuvor. «Habt ihr euch auch privat getroffen?»
«Nö.»
«Oder in einer Kneipe oder einem Café?», hakte Navideh nach. Er zögerte. «Ja. Einmal. Vor 14 Tagen hat sie ihren Sportunterricht mal wieder ausfallen lassen. Bei uns war an dem Tag der Erdkundelehrer krank. Wir trafen uns zufällig auf dem Hof, und da hat sie mich gefragt, ob wir zu einem Spiel ins Café beim Krankenhaus gehen wollen.»
«Und?»
«Klar wollte ich. Ich wollte mir mein Geld zurückholen.»
«Und?»
«Sie hat wieder gewonnen, und ich war die nächsten 15 Euro los. Zum Trost hat sie mich zum Milchkaffee eingeladen. Aber bezahlt hab ich dann trotzdem.»
Navideh räusperte sich. Sie suchte nach den passenden Worten: «War da auch mal mehr zwischen euch? Ein Kuss oder eine Liebesbeziehung? Ich muss
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