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Ehrenhüter

Ehrenhüter

Titel: Ehrenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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damals so schockiert, dass sie nichts erwidern konnte. Sie hörte, wie ihre Schwester im Bett neben ihr schwer atmete. Als sie schon glaubte, Nilgün sei eingeschlafen, schaltete ihre Schwester plötzlich das Licht ein und packte Saliha am Arm. «Ich sage dir, Saliha: Die Familienehre ist nichts anderes als ein verdammtes Frauengefängnis. Aber ich will nicht immer eingesperrt sein. Ich schwöre, wenn die Zeit gekommen ist, werden sie für mich die Türen aufschließen, oder ich werde ausbrechen.»
    Saliha starrte ihre Schwester entsetzt an. Nilgün war für ihren messerscharfen Verstand bekannt, aber noch nie hatte Saliha sie so über die eigene Familie reden hören. Erst als Saliha heftig anfing zu weinen, wurden Nilgüns Gesichtszüge wieder eine Spur weicher. «Du brauchst keine Angst zu haben.
Anne
und
Baba
werden mich eines Tages gehen lassen. Ganz bestimmt. Und dich auch!» Tröstend zog Nilgün sie an sich.
     
    Wieder wagte Saliha einen längeren Blick ins Wohnzimmer. Ihre beiden Brüder saßen auf der Couch und schauten stumm zu Boden. Osman zerrupfte einen Werbeprospekt. Murat stierte regungslos auf einen Punkt auf dem Teppich zu seinen Füßen. Die aufgebrachte Stimme ihres Vaters ließ Saliha zusammenzucken. Hastig schloss sie die Tür bis auf einen winzigen Spalt. Angestrengt versuchte sie zu verstehen, worum es in dem Telefonat ging. Als ihr Vater mehrmals den Namen «Ayub» fallen ließ, ahnte sie, dass er mit seinem älteren Bruder in Bremerhaven sprach. Ob er es ihm gesagt hatte?
    Saliha verspürte das dringende Bedürfnis, zur Toilette zu gehen. Aber sie blieb in ihrem Zimmer. Seitdem ihre Schwester nicht von der Schule zurückgekommen war,wagte sie kaum noch zu atmen. Das Unvorstellbare war geschehen: Nilgün, ihre Vertraute, war weg. Niemals hätte sie sich träumen lassen, dass ihre ältere Schwester sie ohne ein Wort, ohne Vorankündigung verlassen würde.
    Die beiden Schwestern hatten immer über alles gesprochen. Vor einigen Wochen auch über das Unaussprechliche. Darüber, dass Nilgün seit Ende Juni vergangenen Jahres einen Freund hatte. Einen Deutschen aus ihrer Schule. Einmal nannte sie im Schlaf seinen Namen. Seitdem beobachtete Saliha jede Regung Nilgüns ganz genau. Aber sie ließ sich nichts anmerken. Bis zu dem Nachmittag im Spätsommer, an dem Nilgün versehentlich ihr Handy auf dem Bett liegenließ, weil ihre Mutter sie in die Küche rief. Als Saliha sah, dass eine SMS für ihre Schwester angekommen war, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen und öffnete die Nachricht. Saliha war wie vom Donner gerührt. Der Junge aus den Träumen hatte Nilgün geschrieben. Einen einzigen Satz nur. Fünf Wörter, die Nilgüns Leben zerstören könnten, wenn die Falschen sie zu lesen bekämen: «Der Montag war wieder wunderschön! R.»
    Saliha zweifelte damals keinen Moment, dass sich hinter der Abkürzung der Junge verbarg, dessen Namen Nilgün im Traum gerufen hatte. Als sie abends kurz vorm Einschlafen ihre Schwester auf die SMS ansprach, fühlte sie, wie der Körper im Bett neben ihr erstarrte. Sie schämte sich, dass sie an Nilgüns Handy gegangen war, und wollte ihre Schwester in den Arm nehmen und sich entschuldigen, aber Nilgün stieß Saliha weg. Sie war außer sich und beschimpfte Saliha mit mühsam unterdrückter Stimme. Saliha bat immer wieder um Verzeihung, aber erst, als sie schwor, ihren Eltern niemals etwas davon zu erzählen, beruhigte sich Nilgün langsam wieder. Dann sprach sie von Roman. Erstzögerlich und jedes Wort abwägend. Schließlich wurden ihre Schilderungen immer detaillierter. Nilgün beschrieb die Geschenke, die Roman ihr machte, seine Zettel, die er ihr in der Schule zusteckte und die sie nach dem Lesen sofort vernichtete, sein mit Bücherregalen vollgestelltes Zimmer, in das sie beide sich ungestört von seinen Eltern zurückziehen konnten. Und schließlich erzählte sie atemlos auch von dem Undenkbaren, das sie begangen hatten. Saliha hörte zu, zitternd vor Angst und Faszination. Nie würde sie wagen, was ihre ältere Schwester seit Monaten riskierte. Aber Nilgün war klug und mutig
    Und nun war sie verschwunden.
    Spätestens um 19   Uhr war Nilgün montags immer nach Hause gekommen. Als sie heute um Viertel nach acht immer noch nicht da war, hatte
Anne
den Vater im Laden angerufen. Eine Viertelstunde später stand Kemal Cetin schnaubend in der Wohnung. Er war wütend, weil Nilgün nicht an ihr Handy ging. Wozu hatte er das Gerät gekauft, wenn sie es

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