Ehrenhüter
dem Schrank gestanden hatte, einfach auf dem Boden abgestellt.
Am Ende ihres Rundgangs durch die Wohnung, die von da an ihr allein gehörte, fühlte sich Navideh ganz leer. Aber sie bereute ihren Entschluss nicht. Sie wollte nicht zweifeln, nichts rückgängig machen. ‹Ich kann mein Leben nicht mit einem Menschen verbringen, dem ich nicht mehr vertrauen kann.› Wie ein Mantra wiederholte sie diesen Satz immer wieder. Es half, bis zu dem Zeitpunkt, als sie ins Badezimmer ging und nach der Zahnpasta suchte. Ungeduldig riss Navideh den Spiegelschrank auf. Die Fächer warenleer. Nur ein kleines rotes Haarband lag noch im untersten Fach. Vanessa hatte es immer benutzt, wenn sie duschte und ihre Haare nicht waschen wollte. Petersen wickelte das Band wie einen Ring um ihren linken Zeigefinger, setzte sich auf den Badewannenrand und fing hemmungslos an zu weinen.
Gut drei Monate war das jetzt her.
Warum war es nur so schwierig, jemanden zu vergessen, der einem nicht guttat? Navideh zog sich im Gehen den Pulli aus und warf ihn in die Ecke. Sie nahm sich vor, am nächsten Morgen noch vor der Arbeit eine Waschmaschine anzustellen. Ihr rechter Fuß streifte über etwas Glattes, Kühles am Boden. Erstaunt schaltete sie das Licht an. Jemand hatte ihr eine Postkarte unter der Wohnungstür durchgeschoben. Einen Kunstdruck von Emil Nolde. Düstere, blau-graue Wolken hingen über dem Deich und der endlos weiten Wattenlandschaft. Meer und Land schienen eins zu sein. Nur der schmale Deich trennte die Elemente. Als Navideh genauer hinsah, entdeckte sie eine winzige geduckte Kate hinter dem mühevoll von Menschenhand errichteten Erdwall. Navideh liebte Nolde. Die Melancholie seiner Bilder brachte etwas in ihr zum Klingen. Wo andere nur die Schwermütigkeit eines norddeutschen Malers sahen, fühlte sie eine eigenartige Seelenverwandtschaft und Tiefe.
Neugierig drehte sie die Postkarte um. Als sie die Unterschrift entzifferte, fing ihr Herz an, schneller zu schlagen, und sie begann zu lesen.
«Hallo Navideh, ich hoffe, Euer neuer Fall nimmt Dich nicht allzu sehr in Beschlag. Ich freue mich auf unser Essen. Wenn Du noch Lust auf ein Glas Wein oder einen frisch gepressten O-Saft hast, komm einfach rüber. Ich fahre heuteNacht Taxi und würde mich über einen kurzen Plausch mit Dir freuen.
Bis bald, Jorges.»
Navideh schaute auf die Uhr. Es war kurz nach Mitternacht.
Sie schaltete das Licht aus und ging ans Wohnzimmerfenster. Stoßstange an Stoßstange standen die geparkten Autos. Am Ende der Straße entdeckte sie Jorges Taxi. Er war also noch zu Hause. Sie brauchte nur rüberzugehen und zu klingeln. Ganz unverbindlich, auf ein Glas Wein. Eine gute Möglichkeit abzuschalten. Sie überlegte, ob sie sich wieder anziehen und in das Haus mit den blühenden Dahlien im Vorgarten schräg gegenüber gehen sollte. Er würde sich freuen. So viel stand fest.
Aber konnte sie um diese Uhrzeit einen Mann besuchen, ohne dass er sofort Erwartungen an ihren Besuch knüpfen würde? Navideh zögerte. Dann ging sie ins Bad, duschte kurz und suchte sich aus ihrem Kleiderschrank frische Unterwäsche und einen eng anliegenden Pulli aus.
Als sie 20 Minuten später auf die Straße trat, war Jorges’ Taxi nicht mehr da.
Navideh wusste nicht, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Vielleicht war es besser so. Sie würde die Verabredung zum Essen sowieso absagen müssen. Mitten in einem aktuellen Mordfall hatte sie keine Zeit für eine Romanze. Eigentlich war das Ganze sowieso eine Schnapsidee. Jorges war neun Jahre jünger als sie. Neun Jahre! Als sie volljährig wurde und ihren Führerschein machte, ging Jorges noch zur Grundschule. Im Vergleich zu ihm war sie uralt. Was für ein absurder Gedanke, dass sie sich ineinander verlieben könnten. Aber vielleicht könnten sie Freunde werden. Navideh konnte wunderbar mit ihm reden und noch besser mit ihmlachen. Dabei hatte sie bislang nur während eines Straßenfestes oder ab und an vor dem Gemüsestand im Supermarkt mit ihm gesprochen.
Jorges, so viel wusste Navideh bereits, hatte einen Lebensweg mit vielen Höhen und Tiefen hinter sich. Mit 17 war er im Streit von zu Hause ausgezogen, hatte kurzerhand die Schule abgebrochen und war ein Jahr lang durch Europa gezogen. Mit seinen Jonglierkünsten und Taschentricks hielt er sich über Wasser. In Paris verliebte er sich Hals über Kopf in Dajana, ein Mädchen aus Rumänien. Sie waren unzertrennlich. Wie im Rausch taumelten sie durch das Quartier
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