Ehrenhüter
blinkte. Jemand hatte sie mitten in der Nacht angerufen. Wahrscheinlich Jorges. Navideh drückte auf den Abspielknopf.
Doch es war nicht Jorges, sondern Steenhoff. Seine Stimme klang drängend. «Navideh, bitte melde dich! Ich kann dich auf dem Handy nicht erreichen. Osman hat versucht, mich niederzuschlagen. Er ist bewaffnet.»
10
Sofort war Navideh hellwach. Frank Steenhoff hatte sie auch schon auf dem Handy, das in ihrer Tasche lag, zu erreichen versucht.
Sie hörte die kurze Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter ein zweites Mal ab, dann wählte sie Steenhoffs Handynummer. Er meldete sich sofort. Straßengeräusche übertönten seine Worte. Dann war er wieder deutlich zu hören. Steenhoff erklärte ihr knapp, was passiert war, nachdem ihm Nilgüns Bruder fast vors Auto gelaufen war. Gemeinsammit mehreren Beamten des Einsatzdienstes durchsuchte er seitdem die Lokale und Straßen im Viertel nach Osman.
«Der hat vielleicht gewütet, als ich ihn am Arm packte und zur Rede stellen wollte! Ich glaube, er hat mich gar nicht erkannt.»
Steenhoff vermutete, dass er unter Drogen stand oder betrunken war. «Der Junge hat versucht, mir einen Faustschlag ins Gesicht zu verpassen. Als ich mich duckte, hat er nach mir getreten. Dabei habe ich die Waffe gesehen, die in seinem Gürtel steckte.»
«Hältst du ihn für so gefährlich?»
«Hältst du jemanden mit Waffe und in einem derartigen emotionalen Ausnahmezustand für ungefährlich?»
«Nein, natürlich nicht», antwortete Navideh verlegen. «Wo bist du jetzt?»
«In der Lübecker Straße, Richtung Sielwallkreuzung. Dort können wir uns treffen und die Kneipen an der Hauptstraße unter uns aufteilen.»
Zehn Minuten später stand Navideh an der Kreuzung, die das Ostertorviertel vom Steintor trennte. Es hatte angefangen zu nieseln. Sofort bereute sie, ihre Lederjacke angezogen zu haben.
Navideh stellte sich in den Eingang eines fünfstöckigen Hauses mit zahlreichen WGs und schaute in die Richtung, aus der Steenhoff jeden Moment auftauchen musste. Ein paar Punks hatten sich mit ihren Hunden auf dem breiten Bürgersteig vor einem Lokal niedergelassen. Den Wetterumschwung schienen sie zu ignorieren. Viele von ihnen waren noch jung. Heimatlose Gestalten, die wochenlang auf der Straße lebten und ihren Unterhalt zusammenbettelten. Navideh dachte an ihre Zeit als Schutzpolizistin in Gröpelingen.Damals fühlte sich die Tochter eines älteren Kollegen von der Punkszene angezogen. Mit schwarz geschminkten Augen, rot gefärbten Haaren, in zerrissenen schwarzen Netzstrümpfen und nietenbesetzter Lederjacke war sie eines Abends auf der Wache erschienen und hatte nach ihrem Vater gefragt. Ein Auftritt, der ihren Vater provozieren sollte. Doch während die Kollegen das Mädchen anstarrten, tat der Vater freudig überrascht und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Kaum hatte sie das Revier wieder verlassen, ließ er sich erschöpft in seinen Bürostuhl zurückfallen. Dann sah er sich im Wachraum um und lachte gequält: «Wenn mein Töchterlein meint, sie kann uns hier eine Vorstellung liefern, dann kann ich das auch. Meine Frau ist schon ganz krank wegen dieser Punkscheiße. Aber ich habe mir geschworen, dass sie mit ihrer Provo-Tour bei mir nicht mehr ankommt.»
Ein paar Kollegen nickten anerkennend. Jemand klopfte ihm auf die Schulter. Dann wechselten sie das Thema.
Unter den Punks auf der anderen Straßenseite kam jetzt Unruhe auf. Einer von ihnen stritt mit einem Mädchen in zerrissenem Minirock lautstark um einen Joint. Hunde kläfften. Ein Dritter griff gereizt ein und entriss den beiden kurzerhand den Joint. Dann nahm er selbst einen kräftigen Zug und reichte ihn an das Mädchen weiter.
Navideh kamen Punks häufig vor wie Boten der Endzeit. Sie kultivierten ihr trostloses, schmuddeliges Outfit, mit dem sie sich bewusst vom Rest der Gesellschaft abgrenzten. Doch diese Gruppe, die ihr gegenüber auf dem Bürgersteig lagerte, wollte nicht einmal mehr provozieren. Navideh vermutete, dass sie schon lange in ihrer eigenen Welt lebten. Ohne Zukunft und Perspektive.
Vor dem Hauseingang direkt gegenüber entdeckte Navidehzwei Afrikaner, die auf jemanden zu warten schienen. Sie kannte die Gesichter mit dem gehetzten, suchenden Blick. Junge Männer aus Togo oder Sierra Leone, die in Flüchtlingsunterkünften lebten und von Dealern für ihre Straßengeschäfte angeworben wurden.
Lachend schoben sich einige junge Frauen an Navideh vorbei. Sie waren stark geschminkt und
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