Ehrenhüter
anwesend zu sein. Selbst einen Kindergeburtstag von Marie hatte er über einem wichtigen Fall einmal komplett vergessen. Ira konnte ihm das lange nicht verzeihen. Danach nahm Steenhoff sich an Maries Geburtstagen immer frei. So war er zumindestanwesend, auch wenn seine Gedanken manchmal zwischen Wattepusten und Topfschlagen abschweiften. Selbst als ein Bankräuber im Bremer Norden vor einigen Jahren zwei Menschen erschoss und sie ihn nach sechs Wochen immer noch nicht gefasst hatten, organisierte er an Maries zehntem Geburtstag die Schatzsuche rund um ihren Hof. Aber während die Kleinen aufgeregt herumwuselten und vergeblich nach Zeichen an Zäunen und Pfeilern suchten, hatte Steenhoff über die Motivation des Doppelmörders spekuliert. Schließlich wies Ira ihn verwundert darauf hin, dass er vergessen hatte, eine Spur zur nächsten Aufgabe zu legen. Beschämt musste er sich selbst eingestehen, dass er noch nicht einmal an Maries Geburtstag ein paar Stunden abschalten konnte. Während Ira den Haufen gackernder Mädchen mit ein paar Späßen ablenkte, hatte Steenhoff schnell zur Kreide gegriffen und kleine Pfeile aufs Pflaster gemalt.
Der ehemalige Polizeipräsident hatte recht. Es musste auch ein Leben neben dem Fall geben. Heute Morgen wollte Steenhoff ausschlafen und mit Ira frühstücken, bevor er wieder ins Büro fuhr. Zumindest zwei Stunden an etwas anderes denken als an Ehre und den Preis, den sie in manchen Familien forderte. Steenhoff zwang sich, die Augen geschlossen zu halten. Er musste nur an etwas Schönes denken, dann könnte er sicherlich weiterschlafen. Nach einer Weile blieben seine Gedanken beim Saxophonspielen hängen. Er überlegte schon eine Weile, ob er sich ein neues Instrument leisten sollte.
Als er endlich wieder einschlief, träumte er aber nicht von Jazz oder einem neuen Saxophon, sondern von Navideh. Sie hatte einen neuen Freund. Einen Mann, der viel lachte und sie mit seiner Heiterkeit ansteckte. Beide saßen in der Kantine des Präsidiums und steckten die Köpfe zusammen.Plötzlich ließen sie sich prustend in die Stühle zurückfallen. Er beobachtete sie durch die Glastür und wunderte sich, was dieser Mann Navideh so Lustiges erzählte. Noch nie zuvor hatte er sie so ausgelassen erlebt. Warum war sie mit ihm immer ernst? Was gab es überhaupt zu lachen? Navideh und er hatten sich auf ihren Fall zu konzentrieren und nicht auf einen neuen Flirt. Verärgert rief er ihren Namen. Navideh drehte sich in seine Richtung um und schaute ihn fragend an. Im selben Moment verwischte das Gesicht des Mannes. Plötzlich saß Navideh mit einer unbekannten Frau am Tisch. Sie hatte kurze blonde Haare, hohe Wangenknochen und fein geschwungene dunkle Augenbrauen. Er konnte schwer sagen, wen von beiden er attraktiver fand. Navideh und die Unbekannte schienen das perfekte Paar. Als er sich zu den beiden Frauen setzen wollte, standen beide im selben Moment wortlos auf und gingen.
Steenhoff wachte beschämt auf. Die beiden hatten ihn ohne Grund bloßgestellt. Warum hatten sie ihn so abblitzen lassen?
Er brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff, dass es nur ein Traum gewesen war. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er immerhin gut eine Stunde geschlafen hatte. Leise richtete er sich auf, zog sich Hemd und Hose an und ging barfuß ins Erdgeschoss, um sich einen Kaffee zu kochen.
Während die Kaffeemaschine lief, schaute er in den großen Garten, an den sich die von Gräben durchzogenen Weiden des Nachbarn anschlossen. Der Bauer hatte sein Vieh schon reingeholt. Dafür konnte Steenhoff um diese Zeit ab und an Rehe auf den Wiesen sehen. Einmal war sogar ein Fuchs frühmorgens durch ihren Garten geschlichen.
Steenhoff schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und überlegte, ob er den Kamin im Wohnzimmer anzünden sollte.Ohne weiter nachzudenken, ging er zum Holzkorb, öffnete die Klappe des Kamins und schichtete die Scheite. Er liebte das Prasseln des Holzes. Erst in gut zwei Stunden würde er zu den Rodewaldts fahren, bis dahin wollte er sein Privatleben genießen.
Als die ersten Flammen emporzüngelten, setzte er sich mit seiner Tasse in einen Sessel und legte die nackten Füße auf einen Hocker. Zögerlich eroberte sich der Tag die dunklen Ecken im Garten zurück. Die Schatten unter den Bäumen zogen sich langsam zurück.
Vorsichtig nippte er an seiner Tasse und sog den Kaffeeduft ein. Seine Gedanken schweiften unwillkührlich zu der Familie des getöteten Mädchens.
Wie passten die Cetins zusammen?
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