Ehrenhüter
Kemal Cetin hatte Besmas Andeutungen brüsk von sich gewiesen. Aber nachts, wenn er nicht schlafen konnte, hatte er sich Nilgün als Rechtsanwältin vorgestellt oder als Ärztin in einem weißen Kittel, die abends müde von ihrer Arbeit in ihr großes Haus zurückkehrte. Natürlich würde sie zusammen mit ihrem Mann und den alten Eltern unter einem Dach wohnen. Er, Kemal Cetin, würde sich um den großen Garten und die Gemüsebeete hinter dem Haus kümmern, Besma um Nilgüns Kinder und den Haushalt. Die Schufterei in seinem kleinen Laden hätte endlich ein Ende. Murat würde das Geschäft übernehmen, und er würde nur ab und an aushelfen.
Der Gedanke an Nilgüns Zukunft hatte etwas Verlockendes und Bedrohliches zugleich. Schlaue Frauen besaßenMacht und Einfluss. Mehr als es vielen Männer recht war. Aber gemeinsam mit Besma würde er Nilgün helfen, den passenden Mann zu finden. Am besten jemanden aus der entfernten Familie.
Saliha suchte in ihrer Jackentasche nach dem Haustürschlüssel. Irritiert stellte sie fest, dass er nicht da war. Sie setzte ihren Rucksack vor der Wohnungstür ab und öffnete den Reißverschluss der Vordertasche. Ihre Finger ertasteten einen Anspitzer, mehrere Stifte, ein paar Büroklammern und etwas Münzgeld, aber keinen Schlüssel. Sie überlegte. Vermutlich lag der Schlüssel in ihrer Sporttasche, die sie versehentlich im Klassenraum in der Schule stehengelassen hatte. Saliha zuckte gleichgültig mit den Schultern. Sie musste schließlich nur klingeln, ihre Mutter war immer zu Hause.
Saliha drückte auf die Klingel. Sie lauschte auf die Schritte ihrer Mutter. Aber in der Wohnung blieb es still.
Sie klingelte ein zweites Mal. Diesmal hielt sie den Knopf länger gedrückt. Sie wartete einen Moment, dann hörte sie ein Poltern und Schritte, die sich der Tür näherten. Mit einem Ruck wurde die Haustür aufgerissen. Unwillkürlich wich Saliha zurück.
«Da bist du ja endlich», fuhr ihr Bruder sie böse an. «Du bist eine Stunde zu spät.» Er packte sie am Ärmel und zog sie in die Wohnung.
Wo ist
Anne
?, wollte Saliha fragen. Aber dazu kam sie nicht mehr. Osman versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Sie taumelte und musste sich mit beiden Händen an der Wand abstützen. Schon hatte ihr Bruder ein zweites Mal mit der flachen Hand zugeschlagen. Saliha spürte einen brennenden Stich über ihrem rechten Auge. Schützend risssie die Arme hoch. Aber Osman packte sie und schubste sie ins Wohnzimmer.
Weinend fand Saliha an einem Sessel am Fenster Halt und richtete sich auf. «Warum tust du das?», schrie sie ihren Bruder an. «Was habe ich dir getan?»
«Wo hast du dich die ganze Zeit herumgetrieben, he? Willst du unsere Familie noch weiter in den Dreck ziehen? Die Leute zeigen schon wegen deiner Schwester mit dem Finger auf uns. Sie reden, und sie werden noch mehr reden, wenn die Polizei mit den Journalisten spricht. Die Schande wird in der Zeitung stehen. Sie werden im Fernsehen darüber berichten.»
Drohend baute er sich vor Saliha auf.
«Ich schwöre, Murat und ich werden nicht zulassen, dass du unsere Ehre auch noch mit Füßen trittst. Du wirst nicht so werden wie sie.
Baba
hat ihr viel zu viele Freiheiten gelassen. Den Fehler werden wir nicht ein zweites Mal machen. Ab morgen kommst du nach der Schule sofort nach Hause. Wenn du das Haus nachmittags verlassen willst, meldest du dich bei mir, Murat oder
Baba
ab. Und wage es nicht, uns zu hintergehen.» Er hob die Hand und deutete eine weitere Ohrfeige an.
Saliha duckte sich. Aber diesmal beließ er es bei einer Drohung.
Ihr Bruder marschierte auf die Wohnungstür zu. Osman stand schon halb im Hausflur, als er sich noch einmal umdrehte. «Heute gehst du nicht mehr raus.»
«Wo ist
Anne
?», fragte Saliha ängstlich.
Er sandte ihr einen vernichtenden Blick zu. «Du wirst heute Abend das Essen machen.
Anne
liegt im Krankenhaus.»
15
Steenhoff war früh aufgewacht. Nach einem Blick auf den Wecker hatte er sich noch einmal auf die Seite gedreht. Draußen war es dunkel. Aber er konnte nicht wieder in den Schlaf finden. Nachdem er mehrere Positionen ausprobiert hatte, fühlte er sich wacher als zuvor. Neben sich hörte er Iras regelmäßige Atemzüge. Es war Sonntag. Sie würde frühestens in zwei Stunden aufstehen, um mit ihm zu frühstücken. Mit geschlossenen Augen lag er auf dem Rücken und dachte über Besma Cetin und ihre Kinder nach. Wie unterschiedlich die vier waren. Obwohl er Nilgün nie kennengelernt hatte, imponierte
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