Ehrenhüter
verschwunden war.
Sie stieß die Haustür auf und bemerkte nicht, dass die Scheibe im oberen Teil zersplittert war. Langsam, Schritt für Schritt stieg Saliha die Treppenstufen hinauf. Ihr Rucksack mit den Büchern wog schwer, die Trageriemen drückten sich in ihre Haut. Aber der leise Schmerz tat ihr gut. Zumindest empfand sie noch etwas. Seit Tagen fühlte sich Saliha wie in einem Kokon gefangen. Nichts drang zu ihr durch. Weder die Schläge ihres Vaters noch die Tränen ihrer Mutter. Auch Osman konnte ihr keine Angst mehr machen. Seine Fragen, die eher einem Verhör glichen, perlten an ihr ab. Manchmal schloss sie die Augen und hoffte, dass alles nur ein böser Traum war. Noch zwei Stockwerke, und Besma würde ihr lächelnd die Tür öffnen und nach dem Schultag und den Freundinnen fragen. Sie würden ein bisschen plaudern und scherzen und zusammen die letzten Handgriffe für das Essen erledigen.
Baba
und ihre Brüder würden erst abends zu Hause essen. Mittags nach der Schule saßen nur Nilgün,
Anne
und sie zusammen. Ihre Mutter würde wieder fragen, was sie heute gelernt hatte. Sie schien sich für alles zu interessieren, auch wenn sie sich unter linearen Funktionen, Wechselstrom oder Aggregatzuständen nichts vorstellen konnte. Die beiden Mädchen wetteiferten mit Fremdwörtern und Fachbegriffen, und ihre Mutter lauschte ihnen, als sängen sie ein betörendes Lied.
Natürlich hatte Nilgün immer gewonnen, obwohl sie oft so tat, als gingen ihr die Ideen aus. Aber Saliha wusste, dass ihre Schwester sie damit bewusst ermutigen wollte. Sie sollte Lust bekommen zu lernen. Noch mehr, als sie es jetzt schon tat. In diesen Dingen ähnelten sich
Anne
und Nilgünwie Zwillinge. Beide liebten Bücher. Solche, in denen lange Geschichten erzählt wurden, aber auch Lehrbücher. Wenn die Mutter Bücher vom Tisch nahm, um Platz für Teller und Speisen zu schaffen, beobachtete Saliha sie oft, wie sie ehrfurchtsvoll mit der Hand über die Einbände strich. Die Buchstaben versprachen ihren beiden Töchtern ein anderes Leben als das, was sie selbst führte. Ob mathematische oder chemische Formeln – für Besma ähnelten sie Zaubersprüchen, die einem, wenn man sie nur beherrschte, die ganze Welt öffneten. Nilgün sog das Wissen, das ihrer Mutter verwehrt geblieben war, auf und konnte schon bald besser mit ihm umgehen als viele ihrer Mitschüler. Saliha tat sich schwerer, und manchmal schrieb sie die Lösungen lieber vor dem Unterricht ab, als sich nachmittags durch die Bücher zu quälen.
Wenn Nilgün sie beim Mogeln erwischte, schimpfte die Schwester mit ihr. Es waren die einzigen ernsthaften Streitigkeiten zwischen ihnen, an die sich Saliha erinnern konnte. Nilgün hatte sie ein «dummes Huhn» gescholten und sie sogar einmal in ihrem Zimmer eingeschlossen. Erst nachdem sie alle englischen Vokabeln gelernt hatte, durfte Saliha wieder heraus. Sie war wütend gewesen, als Nilgün am frühen Abend endlich die Tür öffnete. Doch ihre Schwester hatte sie angelächelt und ihr eine Überraschung versprochen.
Nachdem Nilgün alle Vokabeln abgefragt hatte, verschwand sie in der Küche und kam mit einer Schale Tel Kadayif für sie beide zurück. Saliha liebte diese Süßspeise. Die langen, feinen Nudeln aus Mehl, Wasser und Salz wurden mit Zuckersirup übergossen. Nilgün raspelte immer noch ein paar Nüsse darüber. Sie liebte es, Desserts für die Familie zu kreieren. Das alltägliche Kochen dagegen überließ Nilgünihrer Mutter oder Saliha. Doch meist drängte die
Anne
ihre Mädchen mit sanfter Gewalt aus der Küche. «Lernt, meine Töchter, lernt. Eure Hausaufgaben sind wichtiger als schmutzige Töpfe», pflegte sie zu sagen. Für diese Haltung hatte sie sogar gelegentlich Streit mit ihrem Mann riskiert.
Anders als die Mutter hatte
Baba
in der Heimat Lesen und Schreiben gelernt. Aber wie viele Jungen auf dem Dorf war er nur sechs Jahre zur Schule gegangen. Er war glücklich über seine Söhne, die beide einen Schulabschluss in der Tasche hatten. Der Lerneifer seiner ältesten Tochter aber war ihm suspekt. «Was sollen die Mädchen mit all dem Wissen in ihren Köpfen?», hatte er Besma in einem Streit vorgehalten. «Sie werden heiraten und ihre Männer versorgen. Dazu müssen sie nicht zwölf Jahre zur Schule gehen.» Doch eigentlich war Kemal Cetin stolz auf seine große Tochter, die so gute Noten mit nach Hause brachte. Und so war in den vergangenen Monaten das erste Mal die Möglichkeit eines Studiums angesprochen worden.
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